Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

näherm Studium in dieser Sprache selbst eure Muttersprache
erkennen und finden werdet, daß dieser Esel schon vor Jahr-
tausenden die tiefsten Geheimnisse eurer speculativen
Weisheit ausgeplaudert
hat. Thatsache, meine Herren!
ist, um es euch nochmals zu wiederholen, eine Vorstellung, an
deren Wahrheit man nicht zweifelt, weil ihr Gegenstand kein Ob-
ject der Theorie, sondern des Gemüths ist, welches wünscht, daß
ist, was es wünscht, was es glaubt, Thatsache ist, was zu läug-
nen verboten ist, wenn auch nicht äußerlich, doch innerlich, That-
sache ist jede Möglichkeit, die für Wirklichkeit gilt, jede Vorstellung,
die für ihre Zeit, da, wo sie eben Thatsache ist, ein Bedürfniß
ausdrückt und eben damit eine nicht überschreitbare Schranke
des Geistes ist, Thatsache ist jeder realisirte Wunsch, kurz That-
sache ist Alles, was nicht bezweifelt wird, aus dem einfachen
Grunde, weil es nicht bezweifelt wird, nicht bezweifelt werden soll.

Das religiöse Gemüth ist, seiner bisher entwickelten Natur
zufolge, in der unmittelbaren Gewißheit, daß alle seine un-
willkührlichen Selbstaffectionen Eindrücke von Außen, Erschei-
nungen eines andern Wesens sind. Das religiöse Gemüth
macht sich zu dem leidenden, Gott zu dem handelnden
Wesen. Gott ist seine entäußerte Activität, die es nur in-
sofern sich wieder aneignet, also indirect, daß es sich zum Ob-
ject
dieser Activität macht. Gott ist die Activität; aber was
ihn zur Thätigkeit bestimmt, was seine Thätigkeit, die zu-
vörderst nur Allvermögen, potentia ist, zur wirklichen Thä-
tigkeit macht, das eigentliche Motiv, der Grund ist nicht Er
-- er braucht nichts für sich, er ist bedürfnißlos -- sondern
der Mensch, das religiöse Subject oder Gemüth. Das Gott
zur Thätigkeit Bestimmende ist der Mensch; aber zugleich
wird wieder der Mensch bestimmt von Gott, er macht sich

näherm Studium in dieſer Sprache ſelbſt eure Mutterſprache
erkennen und finden werdet, daß dieſer Eſel ſchon vor Jahr-
tauſenden die tiefſten Geheimniſſe eurer ſpeculativen
Weisheit ausgeplaudert
hat. Thatſache, meine Herren!
iſt, um es euch nochmals zu wiederholen, eine Vorſtellung, an
deren Wahrheit man nicht zweifelt, weil ihr Gegenſtand kein Ob-
ject der Theorie, ſondern des Gemüths iſt, welches wünſcht, daß
iſt, was es wünſcht, was es glaubt, Thatſache iſt, was zu läug-
nen verboten iſt, wenn auch nicht äußerlich, doch innerlich, That-
ſache iſt jede Möglichkeit, die für Wirklichkeit gilt, jede Vorſtellung,
die für ihre Zeit, da, wo ſie eben Thatſache iſt, ein Bedürfniß
ausdrückt und eben damit eine nicht überſchreitbare Schranke
des Geiſtes iſt, Thatſache iſt jeder realiſirte Wunſch, kurz That-
ſache iſt Alles, was nicht bezweifelt wird, aus dem einfachen
Grunde, weil es nicht bezweifelt wird, nicht bezweifelt werden ſoll.

Das religiöſe Gemüth iſt, ſeiner bisher entwickelten Natur
zufolge, in der unmittelbaren Gewißheit, daß alle ſeine un-
willkührlichen Selbſtaffectionen Eindrücke von Außen, Erſchei-
nungen eines andern Weſens ſind. Das religiöſe Gemüth
macht ſich zu dem leidenden, Gott zu dem handelnden
Weſen. Gott iſt ſeine entäußerte Activität, die es nur in-
ſofern ſich wieder aneignet, alſo indirect, daß es ſich zum Ob-
ject
dieſer Activität macht. Gott iſt die Activität; aber was
ihn zur Thätigkeit beſtimmt, was ſeine Thätigkeit, die zu-
vörderſt nur Allvermögen, potentia iſt, zur wirklichen Thä-
tigkeit macht, das eigentliche Motiv, der Grund iſt nicht Er
— er braucht nichts für ſich, er iſt bedürfnißlos — ſondern
der Menſch, das religiöſe Subject oder Gemüth. Das Gott
zur Thätigkeit Beſtimmende iſt der Menſch; aber zugleich
wird wieder der Menſch beſtimmt von Gott, er macht ſich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0298" n="280"/>
näherm Studium in die&#x017F;er Sprache &#x017F;elb&#x017F;t eure <hi rendition="#g">Mutter&#x017F;prache</hi><lb/>
erkennen und finden werdet, daß <hi rendition="#g">die&#x017F;er E&#x017F;el</hi> &#x017F;chon vor Jahr-<lb/>
tau&#x017F;enden die <hi rendition="#g">tief&#x017F;ten Geheimni&#x017F;&#x017F;e eurer &#x017F;peculativen<lb/>
Weisheit ausgeplaudert</hi> hat. That&#x017F;ache, meine Herren!<lb/>
i&#x017F;t, um es euch nochmals zu wiederholen, eine Vor&#x017F;tellung, an<lb/>
deren Wahrheit man nicht zweifelt, weil ihr Gegen&#x017F;tand kein Ob-<lb/>
ject der Theorie, &#x017F;ondern des Gemüths i&#x017F;t, welches wün&#x017F;cht, daß<lb/>
i&#x017F;t, was es wün&#x017F;cht, was es glaubt, That&#x017F;ache i&#x017F;t, was zu läug-<lb/>
nen verboten i&#x017F;t, wenn auch nicht äußerlich, doch innerlich, That-<lb/>
&#x017F;ache i&#x017F;t jede Möglichkeit, die für Wirklichkeit gilt, jede Vor&#x017F;tellung,<lb/>
die für ihre Zeit, da, wo &#x017F;ie eben That&#x017F;ache i&#x017F;t, ein Bedürfniß<lb/>
ausdrückt und eben damit eine nicht über&#x017F;chreitbare Schranke<lb/>
des Gei&#x017F;tes i&#x017F;t, That&#x017F;ache i&#x017F;t jeder reali&#x017F;irte Wun&#x017F;ch, kurz That-<lb/>
&#x017F;ache i&#x017F;t Alles, was nicht bezweifelt wird, aus dem einfachen<lb/>
Grunde, weil es nicht bezweifelt wird, nicht bezweifelt werden &#x017F;oll.</p><lb/>
          <p>Das religiö&#x017F;e Gemüth i&#x017F;t, &#x017F;einer bisher entwickelten Natur<lb/>
zufolge, in der unmittelbaren Gewißheit, daß alle &#x017F;eine un-<lb/>
willkührlichen Selb&#x017F;taffectionen Eindrücke von Außen, Er&#x017F;chei-<lb/>
nungen eines andern We&#x017F;ens &#x017F;ind. Das religiö&#x017F;e Gemüth<lb/>
macht &#x017F;ich zu dem <hi rendition="#g">leidenden</hi>, Gott zu dem <hi rendition="#g">handelnden</hi><lb/>
We&#x017F;en. Gott i&#x017F;t &#x017F;eine <hi rendition="#g">entäußerte Activität</hi>, die es nur in-<lb/>
&#x017F;ofern &#x017F;ich wieder aneignet, al&#x017F;o indirect, daß es &#x017F;ich zum <hi rendition="#g">Ob-<lb/>
ject</hi> die&#x017F;er Activität macht. Gott i&#x017F;t die Activität; aber was<lb/>
ihn zur <hi rendition="#g">Thätigkeit be&#x017F;timmt</hi>, was &#x017F;eine Thätigkeit, die zu-<lb/>
vörder&#x017F;t nur Allvermögen, <hi rendition="#aq">potentia</hi> i&#x017F;t, zur <hi rendition="#g">wirklichen</hi> Thä-<lb/>
tigkeit macht, das eigentliche Motiv, der Grund i&#x017F;t nicht Er<lb/>
&#x2014; er braucht nichts für &#x017F;ich, er i&#x017F;t bedürfnißlos &#x2014; &#x017F;ondern<lb/>
der <hi rendition="#g">Men&#x017F;ch</hi>, das religiö&#x017F;e Subject oder Gemüth. Das Gott<lb/>
zur Thätigkeit Be&#x017F;timmende i&#x017F;t der Men&#x017F;ch; aber zugleich<lb/>
wird wieder der Men&#x017F;ch be&#x017F;timmt von Gott, er macht &#x017F;ich<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[280/0298] näherm Studium in dieſer Sprache ſelbſt eure Mutterſprache erkennen und finden werdet, daß dieſer Eſel ſchon vor Jahr- tauſenden die tiefſten Geheimniſſe eurer ſpeculativen Weisheit ausgeplaudert hat. Thatſache, meine Herren! iſt, um es euch nochmals zu wiederholen, eine Vorſtellung, an deren Wahrheit man nicht zweifelt, weil ihr Gegenſtand kein Ob- ject der Theorie, ſondern des Gemüths iſt, welches wünſcht, daß iſt, was es wünſcht, was es glaubt, Thatſache iſt, was zu läug- nen verboten iſt, wenn auch nicht äußerlich, doch innerlich, That- ſache iſt jede Möglichkeit, die für Wirklichkeit gilt, jede Vorſtellung, die für ihre Zeit, da, wo ſie eben Thatſache iſt, ein Bedürfniß ausdrückt und eben damit eine nicht überſchreitbare Schranke des Geiſtes iſt, Thatſache iſt jeder realiſirte Wunſch, kurz That- ſache iſt Alles, was nicht bezweifelt wird, aus dem einfachen Grunde, weil es nicht bezweifelt wird, nicht bezweifelt werden ſoll. Das religiöſe Gemüth iſt, ſeiner bisher entwickelten Natur zufolge, in der unmittelbaren Gewißheit, daß alle ſeine un- willkührlichen Selbſtaffectionen Eindrücke von Außen, Erſchei- nungen eines andern Weſens ſind. Das religiöſe Gemüth macht ſich zu dem leidenden, Gott zu dem handelnden Weſen. Gott iſt ſeine entäußerte Activität, die es nur in- ſofern ſich wieder aneignet, alſo indirect, daß es ſich zum Ob- ject dieſer Activität macht. Gott iſt die Activität; aber was ihn zur Thätigkeit beſtimmt, was ſeine Thätigkeit, die zu- vörderſt nur Allvermögen, potentia iſt, zur wirklichen Thä- tigkeit macht, das eigentliche Motiv, der Grund iſt nicht Er — er braucht nichts für ſich, er iſt bedürfnißlos — ſondern der Menſch, das religiöſe Subject oder Gemüth. Das Gott zur Thätigkeit Beſtimmende iſt der Menſch; aber zugleich wird wieder der Menſch beſtimmt von Gott, er macht ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/298
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/298>, abgerufen am 05.12.2024.