Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

meinem Wissen nur ein quantitativer Unterschied; die Qua-
lität
des Wissens ist dieselbe. Ich könnte ja auch in der
That gar nicht die Allwissenheit von einem Gegenstande oder
Wesen außer mir prädiciren, wenn sie wesentlich von mei-
nem Wissen unterschieden, wenn sie nicht eine Vorstellungs-
art
von mir selbst wäre, nicht in meinem Vorstellungs-
vermögen
existirte. Das Sinnliche ist so gut Gegenstand
und Inhalt der göttlichen Allwissenheit, als meines Wissens.
Die Phantasie beseitigt nur die Schranke der Quantität,
nicht der Qualität. Unser Wissen ist beschränkt, heißt: wir
wissen nur Einiges, Weniges, nicht Alles.

Die wohlthätige Wirkung der Religion beruht auf dieser
Erweiterung des sinnlichen Bewußtseins. In der Religion
ist der Mensch im Freien, sub divo; im sinnlichen Bewußt-
sein in seiner engen, beschränkten Wohnung. Die Re-
ligion bezieht sich wesentlich, ursprünglich -- und nur
in seinem Ursprung ist Etwas heilig, wahr, rein und gut --
nur auf das unmittelbar sinnliche Bewußtsein; sie ist die
Beseitigung der sinnlichen Schranken. Abgeschloßne, beschränkte
Menschen und Völker bewahren die Religion in ihrem ur-
sprünglichen Sinne, weil sie selbst im Ursprung, an der Quelle
der Religion stehen bleiben. Je beschränkter der Gesichtskreis
des Menschen, je weniger er weiß von Geschichte, Natur,
Philosophie, desto inniger hängt er an seiner Religion.

Darum hat auch der Religiöse kein Bedürfniß der Bil-
dung in sich. Warum hatten die Hebräer keine Kunst, keine
Wissenschaft, wie die Griechen? weil sie kein Bedürfniß dar-
nach hatten. Und warum hatten sie kein Bedürfniß? Jehovah
ersetzte ihnen dieses Bedürfniß. In der göttlichen Allwissen-
heit erhebt sich der Mensch über die Schranken seines Wissens;

meinem Wiſſen nur ein quantitativer Unterſchied; die Qua-
lität
des Wiſſens iſt dieſelbe. Ich könnte ja auch in der
That gar nicht die Allwiſſenheit von einem Gegenſtande oder
Weſen außer mir prädiciren, wenn ſie weſentlich von mei-
nem Wiſſen unterſchieden, wenn ſie nicht eine Vorſtellungs-
art
von mir ſelbſt wäre, nicht in meinem Vorſtellungs-
vermögen
exiſtirte. Das Sinnliche iſt ſo gut Gegenſtand
und Inhalt der göttlichen Allwiſſenheit, als meines Wiſſens.
Die Phantaſie beſeitigt nur die Schranke der Quantität,
nicht der Qualität. Unſer Wiſſen iſt beſchränkt, heißt: wir
wiſſen nur Einiges, Weniges, nicht Alles.

Die wohlthätige Wirkung der Religion beruht auf dieſer
Erweiterung des ſinnlichen Bewußtſeins. In der Religion
iſt der Menſch im Freien, sub divo; im ſinnlichen Bewußt-
ſein in ſeiner engen, beſchränkten Wohnung. Die Re-
ligion bezieht ſich weſentlich, urſprünglich — und nur
in ſeinem Urſprung iſt Etwas heilig, wahr, rein und gut —
nur auf das unmittelbar ſinnliche Bewußtſein; ſie iſt die
Beſeitigung der ſinnlichen Schranken. Abgeſchloßne, beſchränkte
Menſchen und Völker bewahren die Religion in ihrem ur-
ſprünglichen Sinne, weil ſie ſelbſt im Urſprung, an der Quelle
der Religion ſtehen bleiben. Je beſchränkter der Geſichtskreis
des Menſchen, je weniger er weiß von Geſchichte, Natur,
Philoſophie, deſto inniger hängt er an ſeiner Religion.

Darum hat auch der Religiöſe kein Bedürfniß der Bil-
dung in ſich. Warum hatten die Hebräer keine Kunſt, keine
Wiſſenſchaft, wie die Griechen? weil ſie kein Bedürfniß dar-
nach hatten. Und warum hatten ſie kein Bedürfniß? Jehovah
erſetzte ihnen dieſes Bedürfniß. In der göttlichen Allwiſſen-
heit erhebt ſich der Menſch über die Schranken ſeines Wiſſens;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0312" n="294"/>
meinem Wi&#x017F;&#x017F;en nur ein quantitativer Unter&#x017F;chied; die <hi rendition="#g">Qua-<lb/>
lität</hi> des Wi&#x017F;&#x017F;ens i&#x017F;t die&#x017F;elbe. Ich könnte ja auch in der<lb/>
That gar nicht die Allwi&#x017F;&#x017F;enheit von einem Gegen&#x017F;tande oder<lb/>
We&#x017F;en außer mir prädiciren, wenn &#x017F;ie <hi rendition="#g">we&#x017F;entlich</hi> von mei-<lb/>
nem Wi&#x017F;&#x017F;en unter&#x017F;chieden, wenn &#x017F;ie nicht eine <hi rendition="#g">Vor&#x017F;tellungs-<lb/>
art</hi> von mir &#x017F;elb&#x017F;t wäre, nicht in <hi rendition="#g">meinem Vor&#x017F;tellungs-<lb/>
vermögen</hi> exi&#x017F;tirte. Das Sinnliche i&#x017F;t &#x017F;o gut Gegen&#x017F;tand<lb/>
und Inhalt der göttlichen Allwi&#x017F;&#x017F;enheit, als meines Wi&#x017F;&#x017F;ens.<lb/>
Die Phanta&#x017F;ie be&#x017F;eitigt nur die Schranke der Quantität,<lb/>
nicht der Qualität. Un&#x017F;er Wi&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t be&#x017F;chränkt, heißt: wir<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en nur Einiges, Weniges, nicht Alles.</p><lb/>
          <p>Die wohlthätige Wirkung der Religion beruht auf die&#x017F;er<lb/><hi rendition="#g">Erweiterung</hi> des &#x017F;innlichen Bewußt&#x017F;eins. In der Religion<lb/>
i&#x017F;t der Men&#x017F;ch <hi rendition="#g">im Freien</hi>, <hi rendition="#aq">sub divo</hi>; im &#x017F;innlichen Bewußt-<lb/>
&#x017F;ein in &#x017F;einer engen, be&#x017F;chränkten Wohnung. Die Re-<lb/>
ligion bezieht &#x017F;ich we&#x017F;entlich, ur&#x017F;prünglich &#x2014; und nur<lb/>
in &#x017F;einem Ur&#x017F;prung i&#x017F;t Etwas heilig, wahr, rein und gut &#x2014;<lb/>
nur auf das <hi rendition="#g">unmittelbar &#x017F;innliche</hi> Bewußt&#x017F;ein; &#x017F;ie i&#x017F;t die<lb/>
Be&#x017F;eitigung der &#x017F;innlichen Schranken. Abge&#x017F;chloßne, be&#x017F;chränkte<lb/>
Men&#x017F;chen und Völker bewahren die Religion in ihrem ur-<lb/>
&#x017F;prünglichen Sinne, weil &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t im Ur&#x017F;prung, an der Quelle<lb/>
der Religion &#x017F;tehen bleiben. Je be&#x017F;chränkter der Ge&#x017F;ichtskreis<lb/>
des Men&#x017F;chen, je weniger er weiß von Ge&#x017F;chichte, Natur,<lb/>
Philo&#x017F;ophie, de&#x017F;to inniger hängt er an &#x017F;einer Religion.</p><lb/>
          <p>Darum hat auch der Religiö&#x017F;e kein Bedürfniß der Bil-<lb/>
dung in &#x017F;ich. Warum hatten die Hebräer keine Kun&#x017F;t, keine<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, wie die Griechen? weil &#x017F;ie kein Bedürfniß dar-<lb/>
nach hatten. Und warum hatten &#x017F;ie kein Bedürfniß? Jehovah<lb/>
er&#x017F;etzte ihnen die&#x017F;es Bedürfniß. In der göttlichen Allwi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
heit erhebt &#x017F;ich der Men&#x017F;ch über die Schranken &#x017F;eines Wi&#x017F;&#x017F;ens;<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[294/0312] meinem Wiſſen nur ein quantitativer Unterſchied; die Qua- lität des Wiſſens iſt dieſelbe. Ich könnte ja auch in der That gar nicht die Allwiſſenheit von einem Gegenſtande oder Weſen außer mir prädiciren, wenn ſie weſentlich von mei- nem Wiſſen unterſchieden, wenn ſie nicht eine Vorſtellungs- art von mir ſelbſt wäre, nicht in meinem Vorſtellungs- vermögen exiſtirte. Das Sinnliche iſt ſo gut Gegenſtand und Inhalt der göttlichen Allwiſſenheit, als meines Wiſſens. Die Phantaſie beſeitigt nur die Schranke der Quantität, nicht der Qualität. Unſer Wiſſen iſt beſchränkt, heißt: wir wiſſen nur Einiges, Weniges, nicht Alles. Die wohlthätige Wirkung der Religion beruht auf dieſer Erweiterung des ſinnlichen Bewußtſeins. In der Religion iſt der Menſch im Freien, sub divo; im ſinnlichen Bewußt- ſein in ſeiner engen, beſchränkten Wohnung. Die Re- ligion bezieht ſich weſentlich, urſprünglich — und nur in ſeinem Urſprung iſt Etwas heilig, wahr, rein und gut — nur auf das unmittelbar ſinnliche Bewußtſein; ſie iſt die Beſeitigung der ſinnlichen Schranken. Abgeſchloßne, beſchränkte Menſchen und Völker bewahren die Religion in ihrem ur- ſprünglichen Sinne, weil ſie ſelbſt im Urſprung, an der Quelle der Religion ſtehen bleiben. Je beſchränkter der Geſichtskreis des Menſchen, je weniger er weiß von Geſchichte, Natur, Philoſophie, deſto inniger hängt er an ſeiner Religion. Darum hat auch der Religiöſe kein Bedürfniß der Bil- dung in ſich. Warum hatten die Hebräer keine Kunſt, keine Wiſſenſchaft, wie die Griechen? weil ſie kein Bedürfniß dar- nach hatten. Und warum hatten ſie kein Bedürfniß? Jehovah erſetzte ihnen dieſes Bedürfniß. In der göttlichen Allwiſſen- heit erhebt ſich der Menſch über die Schranken ſeines Wiſſens;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/312
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/312>, abgerufen am 05.12.2024.