vergeudet der Mensch an das bedürfnißlose Wesen. Die wirk- liche Ursache wird zum selbstlosen Mittel, eine nur vorgestellte imaginäre Ursache zur wahren, wirklichen Ursache. Der Mensch dankt Gott für die Wohlthaten, die ihm der Andere selbst mit Opfern dargebracht. Der Dank, den er seinem Wohl- thäter ausspricht, ist nur ein scheinbarer, er gilt nicht ihm, sondern Gott. Er ist dankbar gegen Gott, aber undankbar gegen den Menschen. So geht die sittliche Gesinnung in der Religion unter! So opfert der Mensch den Menschen Gott auf! Die blutigen Menschenopfer sind in der That nur roh- sinnliche Ausdrücke von den Geheimnissen der Religion. Wo blutige Menschenopfer Gott dargebracht werden, da gelten diese Opfer für die höchsten, das sinnliche Leben für das höchste Gut. Deßwegen opfert man das Leben Gott auf, und zwar in außerordentlichen Fällen; man glaubt damit ihm die größte Ehre zu erweisen. Wenn das Christenthum nicht mehr, we- nigstens in unsrer Zeit, blutige Opfer seinem Gott dar- bringt, so kommt das nur daher, daß das sinnliche Leben nicht mehr für das höchste Gut gilt. Man opfert dafür Gott die Seele, die Gesinnung, weil diese für höher gilt. Aber das Gemeinsame ist, daß der Mensch in der Religion eine Ver- bindlichkeit gegen den Menschen -- wie die, das Leben des Andern zu respectiren, dankbar zu sein -- einer religiösen Ver- bindlichkeit, das Verhältniß zum Menschen dem Verhältniß zu Gott aufopfert. Die Christen haben durch den Begriff der Bedürfnißlosigkeit Gottes, die nur ein Gegenstand der reinen Anbetung sei, allerdings viele wüste Vorstellungen beseitigt. Aber diese Bedürfnißlosigkeit ist nur ein metaphysischer Begriff, der keineswegs die differentia specifica der Religion begrün- det. Das Bedürfniß der Anbetung nur auf eine Seite, auf
vergeudet der Menſch an das bedürfnißloſe Weſen. Die wirk- liche Urſache wird zum ſelbſtloſen Mittel, eine nur vorgeſtellte imaginäre Urſache zur wahren, wirklichen Urſache. Der Menſch dankt Gott für die Wohlthaten, die ihm der Andere ſelbſt mit Opfern dargebracht. Der Dank, den er ſeinem Wohl- thäter ausſpricht, iſt nur ein ſcheinbarer, er gilt nicht ihm, ſondern Gott. Er iſt dankbar gegen Gott, aber undankbar gegen den Menſchen. So geht die ſittliche Geſinnung in der Religion unter! So opfert der Menſch den Menſchen Gott auf! Die blutigen Menſchenopfer ſind in der That nur roh- ſinnliche Ausdrücke von den Geheimniſſen der Religion. Wo blutige Menſchenopfer Gott dargebracht werden, da gelten dieſe Opfer für die höchſten, das ſinnliche Leben für das höchſte Gut. Deßwegen opfert man das Leben Gott auf, und zwar in außerordentlichen Fällen; man glaubt damit ihm die größte Ehre zu erweiſen. Wenn das Chriſtenthum nicht mehr, we- nigſtens in unſrer Zeit, blutige Opfer ſeinem Gott dar- bringt, ſo kommt das nur daher, daß das ſinnliche Leben nicht mehr für das höchſte Gut gilt. Man opfert dafür Gott die Seele, die Geſinnung, weil dieſe für höher gilt. Aber das Gemeinſame iſt, daß der Menſch in der Religion eine Ver- bindlichkeit gegen den Menſchen — wie die, das Leben des Andern zu reſpectiren, dankbar zu ſein — einer religiöſen Ver- bindlichkeit, das Verhältniß zum Menſchen dem Verhältniß zu Gott aufopfert. Die Chriſten haben durch den Begriff der Bedürfnißloſigkeit Gottes, die nur ein Gegenſtand der reinen Anbetung ſei, allerdings viele wüſte Vorſtellungen beſeitigt. Aber dieſe Bedürfnißloſigkeit iſt nur ein metaphyſiſcher Begriff, der keineswegs die differentia specifica der Religion begrün- det. Das Bedürfniß der Anbetung nur auf eine Seite, auf
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vergeudet der Menſch an das bedürfnißloſe Weſen. Die wirk-
liche Urſache wird zum ſelbſtloſen Mittel, eine nur vorgeſtellte
imaginäre Urſache zur wahren, wirklichen Urſache. Der Menſch
dankt Gott für die Wohlthaten, die ihm der Andere ſelbſt
mit Opfern dargebracht. Der Dank, den er ſeinem Wohl-
thäter ausſpricht, iſt nur ein ſcheinbarer, er gilt nicht ihm,
ſondern Gott. Er iſt dankbar gegen Gott, aber undankbar
gegen den Menſchen. So geht die ſittliche Geſinnung in der
Religion unter! So opfert der Menſch den Menſchen Gott
auf! Die blutigen Menſchenopfer ſind in der That nur roh-
ſinnliche Ausdrücke von den Geheimniſſen der Religion. Wo
blutige Menſchenopfer Gott dargebracht werden, da gelten dieſe
Opfer für die höchſten, das ſinnliche Leben für das höchſte
Gut. Deßwegen opfert man das Leben Gott auf, und zwar
in außerordentlichen Fällen; man glaubt damit ihm die größte
Ehre zu erweiſen. Wenn das Chriſtenthum nicht mehr, we-
nigſtens in unſrer Zeit, blutige Opfer ſeinem Gott dar-
bringt, ſo kommt das nur daher, daß das ſinnliche Leben nicht
mehr für das höchſte Gut gilt. Man opfert dafür Gott die
Seele, die Geſinnung, weil dieſe für höher gilt. Aber das
Gemeinſame iſt, daß der Menſch in der Religion eine Ver-
bindlichkeit gegen den Menſchen — wie die, das Leben des
Andern zu reſpectiren, dankbar zu ſein — einer religiöſen Ver-
bindlichkeit, das Verhältniß zum Menſchen dem Verhältniß zu
Gott aufopfert. Die Chriſten haben durch den Begriff der
Bedürfnißloſigkeit Gottes, die nur ein Gegenſtand der reinen
Anbetung ſei, allerdings viele wüſte Vorſtellungen beſeitigt.
Aber dieſe Bedürfnißloſigkeit iſt nur ein metaphyſiſcher Begriff,
der keineswegs die differentia specifica der Religion begrün-
det. Das Bedürfniß der Anbetung nur auf eine Seite, auf
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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/390>, abgerufen am 05.12.2024.
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