Die Schmerzen des Herzens sind Thatsachen, die Schmer- zen des Gemüthes Vorstellungen. Das Herz blutet, das Gemüth weint. Christus weint über den Tod des Laza- rus. Das Herz hat die Natur zur Basis, es hat physio- logische Bedeutung; das Herz ist eine physikalische Wahr- heit -- nicht aber das Gemüth, d. h. das Gemüth gedacht im Unterschiede vom Herzen. Das Herz ist activ, das Gemüth passiv, das Herz hülfreich, das Gemüth trost- reich. Das Herz ist Leiden als Mitgefühl, als Mitlei- den, das Gemüth Leiden als Selbstgefühl, jenes handelt für Andere, dieses läßt Andere für sich handeln. Das Herz ist bestimmtes, das Gemüth unbestimmtes Gefühl, jenes bezieht sich nur auf wirkliche, dieses auch auf er- träumte Gegenstände. Das Gemüth ist das träumerische Herz. Wenn wir Unsterblichkeit wünschen aus Liebe zu Andern, so kommt dieser Wunsch aus dem Herzen; wenn wir aber Unsterblichkeit wünschen um unsretwillen, aus Mißbehagen, aus Unzufriedenheit mit der wirklichen Welt, so kommt dieser Wunsch aus dem Gemüthe. Im Herzen bezieht sich der Mensch auf Andere, im Gemüthe auf sich. Das Herz ist die Sehnsucht, zu beglücken, das Gemüth, selbst unendlich glücklich zu sein. Das Herz befriedigt sich nur im Andern, das Gemüth in sich selbst. Das in sich selbst befriedigte Gemüth ist Gott. Das Mittel- alter ist gemüthlich, aber herzlos; der christliche Himmel ge- müthlich, aber herzlos, denn er hat zur Seite die Hölle des Glaubens. Das Herz ist unabhängig vom Christenthum, ja es löscht die religiösen Differenzen aus, denn es ist universell, umfaßt alle Menschen, weil es selbst aus der Gattung, dem gemeinschaftlichen Ursprung abstammt. Das Herz beseligt auch den Ungläubigen, aber das Gemüth ist christlichen Glaubens, hat wenigstens im christlichen Glau- ben seinen vollen, entsprechenden Ausdruck gefunden. Kurz, das Herz ist das philosophische, das rationalistische, welt- offne, sonnenklare Gemüth; das Gemüth das mystische,
25*
Die Schmerzen des Herzens ſind Thatſachen, die Schmer- zen des Gemüthes Vorſtellungen. Das Herz blutet, das Gemüth weint. Chriſtus weint über den Tod des Laza- rus. Das Herz hat die Natur zur Baſis, es hat phyſio- logiſche Bedeutung; das Herz iſt eine phyſikaliſche Wahr- heit — nicht aber das Gemüth, d. h. das Gemüth gedacht im Unterſchiede vom Herzen. Das Herz iſt activ, das Gemüth paſſiv, das Herz hülfreich, das Gemüth troſt- reich. Das Herz iſt Leiden als Mitgefühl, als Mitlei- den, das Gemüth Leiden als Selbſtgefühl, jenes handelt für Andere, dieſes läßt Andere für ſich handeln. Das Herz iſt beſtimmtes, das Gemüth unbeſtimmtes Gefühl, jenes bezieht ſich nur auf wirkliche, dieſes auch auf er- träumte Gegenſtände. Das Gemüth iſt das träumeriſche Herz. Wenn wir Unſterblichkeit wünſchen aus Liebe zu Andern, ſo kommt dieſer Wunſch aus dem Herzen; wenn wir aber Unſterblichkeit wünſchen um unſretwillen, aus Mißbehagen, aus Unzufriedenheit mit der wirklichen Welt, ſo kommt dieſer Wunſch aus dem Gemüthe. Im Herzen bezieht ſich der Menſch auf Andere, im Gemüthe auf ſich. Das Herz iſt die Sehnſucht, zu beglücken, das Gemüth, ſelbſt unendlich glücklich zu ſein. Das Herz befriedigt ſich nur im Andern, das Gemüth in ſich ſelbſt. Das in ſich ſelbſt befriedigte Gemüth iſt Gott. Das Mittel- alter iſt gemüthlich, aber herzlos; der chriſtliche Himmel ge- müthlich, aber herzlos, denn er hat zur Seite die Hölle des Glaubens. Das Herz iſt unabhängig vom Chriſtenthum, ja es löſcht die religiöſen Differenzen aus, denn es iſt univerſell, umfaßt alle Menſchen, weil es ſelbſt aus der Gattung, dem gemeinſchaftlichen Urſprung abſtammt. Das Herz beſeligt auch den Ungläubigen, aber das Gemüth iſt chriſtlichen Glaubens, hat wenigſtens im chriſtlichen Glau- ben ſeinen vollen, entſprechenden Ausdruck gefunden. Kurz, das Herz iſt das philoſophiſche, das rationaliſtiſche, welt- offne, ſonnenklare Gemüth; das Gemüth das myſtiſche,
25*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0405"n="387"/>
Die Schmerzen des Herzens ſind <hirendition="#g">Thatſachen</hi>, die Schmer-<lb/>
zen des Gemüthes <hirendition="#g">Vorſtellungen</hi>. Das Herz blutet, das<lb/>
Gemüth weint. Chriſtus weint über den Tod des Laza-<lb/>
rus. Das Herz hat die <hirendition="#g">Natur</hi> zur <hirendition="#g">Baſis</hi>, es hat phyſio-<lb/>
logiſche Bedeutung; das Herz iſt eine <hirendition="#g">phyſikaliſche Wahr-<lb/>
heit</hi>— nicht aber das Gemüth, d. h. das Gemüth gedacht<lb/><hirendition="#g">im Unterſchiede</hi> vom Herzen. Das Herz iſt <hirendition="#g">activ</hi>, das<lb/>
Gemüth <hirendition="#g">paſſiv</hi>, das Herz <hirendition="#g">hülfreich, das</hi> Gemüth <hirendition="#g">troſt-<lb/>
reich</hi>. Das Herz iſt <hirendition="#g">Leiden als Mitgefühl</hi>, als Mitlei-<lb/>
den, das Gemüth <hirendition="#g">Leiden als Selbſtgefühl</hi>, jenes handelt<lb/><hirendition="#g">für Andere</hi>, dieſes läßt Andere <hirendition="#g">für ſich</hi> handeln. Das<lb/>
Herz iſt <hirendition="#g">beſtimmtes</hi>, das Gemüth <hirendition="#g">unbeſtimmtes</hi> Gefühl,<lb/>
jenes bezieht ſich nur auf <hirendition="#g">wirkliche</hi>, dieſes auch auf <hirendition="#g">er-<lb/>
träumte</hi> Gegenſtände. Das Gemüth iſt das <hirendition="#g">träumeriſche<lb/>
Herz</hi>. Wenn wir Unſterblichkeit wünſchen <hirendition="#g">aus Liebe zu<lb/>
Andern</hi>, ſo kommt dieſer Wunſch aus dem <hirendition="#g">Herzen</hi>; wenn<lb/>
wir aber Unſterblichkeit wünſchen <hirendition="#g">um unſretwillen</hi>, aus<lb/>
Mißbehagen, aus Unzufriedenheit mit der wirklichen Welt, ſo<lb/>
kommt dieſer Wunſch aus dem <hirendition="#g">Gemüthe</hi>. Im Herzen<lb/>
bezieht ſich der Menſch auf <hirendition="#g">Andere</hi>, im Gemüthe <hirendition="#g">auf ſich</hi>.<lb/>
Das Herz iſt die Sehnſucht, zu <hirendition="#g">beglücken</hi>, das Gemüth,<lb/>ſelbſt <hirendition="#g">unendlich glücklich zu ſein</hi>. Das Herz befriedigt<lb/>ſich nur <hirendition="#g">im Andern</hi>, das Gemüth <hirendition="#g">in ſich ſelbſt</hi>. Das<lb/>
in <hirendition="#g">ſich ſelbſt befriedigte</hi> Gemüth iſt Gott. Das Mittel-<lb/>
alter iſt gemüthlich, aber herzlos; der chriſtliche Himmel ge-<lb/>
müthlich, aber herzlos, denn er hat zur Seite die Hölle des<lb/>
Glaubens. Das Herz iſt unabhängig vom Chriſtenthum,<lb/>
ja es löſcht die religiöſen Differenzen aus, denn es iſt<lb/>
univerſell, umfaßt alle Menſchen, weil es ſelbſt aus der<lb/>
Gattung, dem gemeinſchaftlichen Urſprung abſtammt. Das<lb/>
Herz beſeligt auch den Ungläubigen, aber das Gemüth<lb/>
iſt chriſtlichen Glaubens, hat wenigſtens im chriſtlichen Glau-<lb/>
ben ſeinen vollen, entſprechenden Ausdruck gefunden. Kurz,<lb/>
das Herz iſt das philoſophiſche, das rationaliſtiſche, <hirendition="#g">welt-<lb/>
offne, ſonnenklare</hi> Gemüth; das Gemüth das myſtiſche,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">25*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[387/0405]
Die Schmerzen des Herzens ſind Thatſachen, die Schmer-
zen des Gemüthes Vorſtellungen. Das Herz blutet, das
Gemüth weint. Chriſtus weint über den Tod des Laza-
rus. Das Herz hat die Natur zur Baſis, es hat phyſio-
logiſche Bedeutung; das Herz iſt eine phyſikaliſche Wahr-
heit — nicht aber das Gemüth, d. h. das Gemüth gedacht
im Unterſchiede vom Herzen. Das Herz iſt activ, das
Gemüth paſſiv, das Herz hülfreich, das Gemüth troſt-
reich. Das Herz iſt Leiden als Mitgefühl, als Mitlei-
den, das Gemüth Leiden als Selbſtgefühl, jenes handelt
für Andere, dieſes läßt Andere für ſich handeln. Das
Herz iſt beſtimmtes, das Gemüth unbeſtimmtes Gefühl,
jenes bezieht ſich nur auf wirkliche, dieſes auch auf er-
träumte Gegenſtände. Das Gemüth iſt das träumeriſche
Herz. Wenn wir Unſterblichkeit wünſchen aus Liebe zu
Andern, ſo kommt dieſer Wunſch aus dem Herzen; wenn
wir aber Unſterblichkeit wünſchen um unſretwillen, aus
Mißbehagen, aus Unzufriedenheit mit der wirklichen Welt, ſo
kommt dieſer Wunſch aus dem Gemüthe. Im Herzen
bezieht ſich der Menſch auf Andere, im Gemüthe auf ſich.
Das Herz iſt die Sehnſucht, zu beglücken, das Gemüth,
ſelbſt unendlich glücklich zu ſein. Das Herz befriedigt
ſich nur im Andern, das Gemüth in ſich ſelbſt. Das
in ſich ſelbſt befriedigte Gemüth iſt Gott. Das Mittel-
alter iſt gemüthlich, aber herzlos; der chriſtliche Himmel ge-
müthlich, aber herzlos, denn er hat zur Seite die Hölle des
Glaubens. Das Herz iſt unabhängig vom Chriſtenthum,
ja es löſcht die religiöſen Differenzen aus, denn es iſt
univerſell, umfaßt alle Menſchen, weil es ſelbſt aus der
Gattung, dem gemeinſchaftlichen Urſprung abſtammt. Das
Herz beſeligt auch den Ungläubigen, aber das Gemüth
iſt chriſtlichen Glaubens, hat wenigſtens im chriſtlichen Glau-
ben ſeinen vollen, entſprechenden Ausdruck gefunden. Kurz,
das Herz iſt das philoſophiſche, das rationaliſtiſche, welt-
offne, ſonnenklare Gemüth; das Gemüth das myſtiſche,
25*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/405>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.