Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.ihm nicht fremd, daß er als ein Gegenstand menschlicher Ver- Die Theologie freilich, welche die metaphysischen Ver- *) Der heilige Bernhard hilft sich mit einem köstlich sophistischem
Wortspiel: Impassibilis est Deus, sed non incompassibilis cui proprium est misereri semper et parcere (Super Cantica. Sermo 26.) als wäre nicht Mitleiden Leiden, freilich Leiden der Liebe, Leiden des Her- zens. Aber was leidet, wenn nicht das theilnehmende Herz? Ohne Liebe keine Leiden. Die Materie, die Quelle des Leidens, ist eben das allgemeine Herz, das allgemeine Band der Natur. ihm nicht fremd, daß er als ein Gegenſtand menſchlicher Ver- Die Theologie freilich, welche die metaphyſiſchen Ver- *) Der heilige Bernhard hilft ſich mit einem köſtlich ſophiſtiſchem
Wortſpiel: Impassibilis est Deus, sed non incompassibilis cui proprium est misereri semper et parcere (Super Cantica. Sermo 26.) als wäre nicht Mitleiden Leiden, freilich Leiden der Liebe, Leiden des Her- zens. Aber was leidet, wenn nicht das theilnehmende Herz? Ohne Liebe keine Leiden. Die Materie, die Quelle des Leidens, iſt eben das allgemeine Herz, das allgemeine Band der Natur. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0073" n="55"/> ihm nicht fremd, daß er als ein Gegenſtand menſchlicher Ver-<lb/> ehrung ſelbſt ein menſchlicher Gott iſt. Jedes Gebet enthüllt<lb/> das Geheimniß der Incarnation, <hi rendition="#g">jedes Gebet iſt in der<lb/> That eine Incarnation Gottes</hi>. Im Gebete ziehe ich<lb/> Gott in das menſchliche Elend herein; ich laſſe ihn Theil neh-<lb/> men an meinen Leiden und Schwächen. Gott iſt nicht taub<lb/> gegen meine Klagen; er erbarmt ſich meiner; er verläugnet<lb/> alſo ſeine göttliche Majeſtät, ſeine Erhabenheit über alles<lb/> Menſchliche und Endliche; er wird Menſch mit dem Menſchen;<lb/> denn erhört er mich, erbarmt er ſich meiner, ſo wird er <hi rendition="#g">afficirt</hi><lb/> von meinem Leiden.</p><lb/> <p>Die Theologie freilich, welche die metaphyſiſchen Ver-<lb/> ſtandesbeſtimmungen der Apathie, der Immutabilität, Ewigkeit<lb/> und andere dergleichen abſtracte Weſensbeſtimmungen im Kopfe<lb/> hat und feſthält, die Theologie freilich läugnet die <hi rendition="#g">Paſſibi-<lb/> lität</hi> Gottes, läugnet aber eben damit auch die <hi rendition="#g">Wahrheit<lb/> der Religion</hi> <note place="foot" n="*)">Der heilige Bernhard hilft ſich mit einem köſtlich ſophiſtiſchem<lb/> Wortſpiel: <hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Impassibilis</hi> est Deus, sed non <hi rendition="#g">incompassibilis</hi> cui<lb/> proprium est misereri semper et parcere (<hi rendition="#g">Super Cantica</hi>. Sermo 26.)</hi><lb/> als wäre nicht Mitleiden Leiden, freilich Leiden der Liebe, Leiden des Her-<lb/> zens. Aber was leidet, wenn nicht das theilnehmende Herz? Ohne Liebe<lb/> keine Leiden. Die Materie, die Quelle des Leidens, iſt eben das allgemeine<lb/> Herz, das allgemeine Band der Natur.</note>. Denn die Religion, der religiöſe Menſch<lb/> glaubt im Acte der Andacht des Gebets an eine wirkliche<lb/> Theilnahme des göttlichen Weſens an ſeinen Leiden und Be-<lb/> dürfniſſen, glaubt an einen durch die <hi rendition="#g">Innigkeit</hi> des Gebets,<lb/> d. h. durch die <hi rendition="#g">Kraft des Gemüths beſtimmbaren</hi> Wil-<lb/> len Gottes, glaubt an eine wirkliche, gegenwärtige, <hi rendition="#g">durch das<lb/> Gebet</hi> bewirkte Erhörung. Der wahrhaft religiöſe Menſch<lb/> legt unbedenklich ſein Herz in Gott; Gott iſt ihm ein Herz,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [55/0073]
ihm nicht fremd, daß er als ein Gegenſtand menſchlicher Ver-
ehrung ſelbſt ein menſchlicher Gott iſt. Jedes Gebet enthüllt
das Geheimniß der Incarnation, jedes Gebet iſt in der
That eine Incarnation Gottes. Im Gebete ziehe ich
Gott in das menſchliche Elend herein; ich laſſe ihn Theil neh-
men an meinen Leiden und Schwächen. Gott iſt nicht taub
gegen meine Klagen; er erbarmt ſich meiner; er verläugnet
alſo ſeine göttliche Majeſtät, ſeine Erhabenheit über alles
Menſchliche und Endliche; er wird Menſch mit dem Menſchen;
denn erhört er mich, erbarmt er ſich meiner, ſo wird er afficirt
von meinem Leiden.
Die Theologie freilich, welche die metaphyſiſchen Ver-
ſtandesbeſtimmungen der Apathie, der Immutabilität, Ewigkeit
und andere dergleichen abſtracte Weſensbeſtimmungen im Kopfe
hat und feſthält, die Theologie freilich läugnet die Paſſibi-
lität Gottes, läugnet aber eben damit auch die Wahrheit
der Religion *). Denn die Religion, der religiöſe Menſch
glaubt im Acte der Andacht des Gebets an eine wirkliche
Theilnahme des göttlichen Weſens an ſeinen Leiden und Be-
dürfniſſen, glaubt an einen durch die Innigkeit des Gebets,
d. h. durch die Kraft des Gemüths beſtimmbaren Wil-
len Gottes, glaubt an eine wirkliche, gegenwärtige, durch das
Gebet bewirkte Erhörung. Der wahrhaft religiöſe Menſch
legt unbedenklich ſein Herz in Gott; Gott iſt ihm ein Herz,
*) Der heilige Bernhard hilft ſich mit einem köſtlich ſophiſtiſchem
Wortſpiel: Impassibilis est Deus, sed non incompassibilis cui
proprium est misereri semper et parcere (Super Cantica. Sermo 26.)
als wäre nicht Mitleiden Leiden, freilich Leiden der Liebe, Leiden des Her-
zens. Aber was leidet, wenn nicht das theilnehmende Herz? Ohne Liebe
keine Leiden. Die Materie, die Quelle des Leidens, iſt eben das allgemeine
Herz, das allgemeine Band der Natur.
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