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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Christus zugleich als Gott, so geht alle Wahrheit verloren, so
litt er, so zu sagen, nur auf der einen Seite, auf der andern
aber nicht -- denn was war für ihn als Gott, als den seiner
Gottheit, seiner Ewigkeit und himmlischen Seligkeit Bewußten
sein Leiden? -- so war sein Leiden nur ein Leiden für ihn als
Menschen, nicht als Gott, nur ein scheinbares, kein wahres
Leiden -- kurz eine bloße Komödie.

Das Leiden Christi repräsentirt jedoch nicht nur das sitt-
liche Leiden, das Leiden der Liebe, der Kraft, sich selbst zum
Wohle Anderer aufzuopfern: es repräsentirt auch das Leiden
als solches
, das Leiden inwiefern es ein Ausdruck der Pas-
sibilität überhaupt ist. Die christliche Religion ist so wenig
eine übermenschliche, daß sie selbst die menschliche Schwachheit
sanctionirt. Wenn der heidnische Philosoph selbst bei der Nach-
richt von dem Tode des eignen Kindes die Worte ausruft: Ich
wußte, daß ich einen Sterblichen gezeugt; so vergießet dagegen
Christus Thränen über den Tod des Lazarus -- einen Tod,
der doch in Wahrheit nur ein Scheintod war. Wenn Sokra-
tes mit unbewegter Seele den Giftbecher leert, so ruft dagegen
Christus aus: "wenn es möglich, so gehe dieser Kelch von
mir."*) Christus ist in dieser Beziehung das Selbstbekenntniß
der menschlichen Sensibilität. Der Christ hat, ganz im Ge-
gensatz gegen das heidnische, namentlich stoische Princip mit
seiner rigorosen Willensenergie und Selbstständigkeit, das Be-

*) Haerent plerique hoc loco.... Ego autem non solum excusan-
dum non puto, sed etiam nusquam magis pietatem ejus majestatemque
demiror. Minus enim contulerat mihi, nisi meum suscepisset af-
fectum
. Ergo pro me doluit, qui pro se nihil habuit, quod doleret....
Suscepit enim tristitiam meam, ut mihi suam laetitiam largiretur....
Non me fefellit, ut aliud esset et aliud videretur. Tristis videbatur
ettristis erat. Ambrosius
. (Exposit. in Lucae Evangel. l. X. c. 22.)

Chriſtus zugleich als Gott, ſo geht alle Wahrheit verloren, ſo
litt er, ſo zu ſagen, nur auf der einen Seite, auf der andern
aber nicht — denn was war für ihn als Gott, als den ſeiner
Gottheit, ſeiner Ewigkeit und himmliſchen Seligkeit Bewußten
ſein Leiden? — ſo war ſein Leiden nur ein Leiden für ihn als
Menſchen, nicht als Gott, nur ein ſcheinbares, kein wahres
Leiden — kurz eine bloße Komödie.

Das Leiden Chriſti repräſentirt jedoch nicht nur das ſitt-
liche Leiden, das Leiden der Liebe, der Kraft, ſich ſelbſt zum
Wohle Anderer aufzuopfern: es repräſentirt auch das Leiden
als ſolches
, das Leiden inwiefern es ein Ausdruck der Paſ-
ſibilität überhaupt iſt. Die chriſtliche Religion iſt ſo wenig
eine übermenſchliche, daß ſie ſelbſt die menſchliche Schwachheit
ſanctionirt. Wenn der heidniſche Philoſoph ſelbſt bei der Nach-
richt von dem Tode des eignen Kindes die Worte ausruft: Ich
wußte, daß ich einen Sterblichen gezeugt; ſo vergießet dagegen
Chriſtus Thränen über den Tod des Lazarus — einen Tod,
der doch in Wahrheit nur ein Scheintod war. Wenn Sokra-
tes mit unbewegter Seele den Giftbecher leert, ſo ruft dagegen
Chriſtus aus: „wenn es möglich, ſo gehe dieſer Kelch von
mir.“*) Chriſtus iſt in dieſer Beziehung das Selbſtbekenntniß
der menſchlichen Senſibilität. Der Chriſt hat, ganz im Ge-
genſatz gegen das heidniſche, namentlich ſtoiſche Princip mit
ſeiner rigoroſen Willensenergie und Selbſtſtändigkeit, das Be-

*) Haerent plerique hoc loco.... Ego autem non solum excusan-
dum non puto, sed etiam nusquam magis pietatem ejus majestatemque
demiror. Minus enim contulerat mihi, nisi meum suscepisset af-
fectum
. Ergo pro me doluit, qui pro se nihil habuit, quod doleret....
Suscepit enim tristitiam meam, ut mihi suam laetitiam largiretur....
Non me fefellit, ut aliud esset et aliud videretur. Tristis videbatur
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. (Exposit. in Lucae Evangel. l. X. c. 22.)
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[64/0082] Chriſtus zugleich als Gott, ſo geht alle Wahrheit verloren, ſo litt er, ſo zu ſagen, nur auf der einen Seite, auf der andern aber nicht — denn was war für ihn als Gott, als den ſeiner Gottheit, ſeiner Ewigkeit und himmliſchen Seligkeit Bewußten ſein Leiden? — ſo war ſein Leiden nur ein Leiden für ihn als Menſchen, nicht als Gott, nur ein ſcheinbares, kein wahres Leiden — kurz eine bloße Komödie. Das Leiden Chriſti repräſentirt jedoch nicht nur das ſitt- liche Leiden, das Leiden der Liebe, der Kraft, ſich ſelbſt zum Wohle Anderer aufzuopfern: es repräſentirt auch das Leiden als ſolches, das Leiden inwiefern es ein Ausdruck der Paſ- ſibilität überhaupt iſt. Die chriſtliche Religion iſt ſo wenig eine übermenſchliche, daß ſie ſelbſt die menſchliche Schwachheit ſanctionirt. Wenn der heidniſche Philoſoph ſelbſt bei der Nach- richt von dem Tode des eignen Kindes die Worte ausruft: Ich wußte, daß ich einen Sterblichen gezeugt; ſo vergießet dagegen Chriſtus Thränen über den Tod des Lazarus — einen Tod, der doch in Wahrheit nur ein Scheintod war. Wenn Sokra- tes mit unbewegter Seele den Giftbecher leert, ſo ruft dagegen Chriſtus aus: „wenn es möglich, ſo gehe dieſer Kelch von mir.“ *) Chriſtus iſt in dieſer Beziehung das Selbſtbekenntniß der menſchlichen Senſibilität. Der Chriſt hat, ganz im Ge- genſatz gegen das heidniſche, namentlich ſtoiſche Princip mit ſeiner rigoroſen Willensenergie und Selbſtſtändigkeit, das Be- *) Haerent plerique hoc loco.... Ego autem non solum excusan- dum non puto, sed etiam nusquam magis pietatem ejus majestatemque demiror. Minus enim contulerat mihi, nisi meum suscepisset af- fectum. Ergo pro me doluit, qui pro se nihil habuit, quod doleret.... Suscepit enim tristitiam meam, ut mihi suam laetitiam largiretur.... Non me fefellit, ut aliud esset et aliud videretur. Tristis videbatur ettristis erat. Ambrosius. (Exposit. in Lucae Evangel. l. X. c. 22.)

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/82>, abgerufen am 30.11.2024.