Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite

nen und unordentlichen, eines unwürdigen
und ehrelosen Daseyns seiner selbst und seines
verbrüderten Stammes, ohne Rüksicht auf
das, was davon für sein sinnliches Wohlseyn
zu fürchten oder zu hoffen sey, ihm innig wehe
thue, und daß dieser Schmerz dem Besitzer ei¬
nes solchen Auges, abermals ganz unabhängig
von sinnlicher Furcht oder Hoffnung, keine Ruhe
lasse, bis er, so viel an ihm ist, den ihm mi߬
fälligen Zustand aufgehoben, und den, der ihm
allein gefallen kann, an seine Stelle gesezt ha¬
be. Im Besitzer eines solchen Auges ist die
Angelegenheit des ihn umgebenden Ganzen,
durch das treibende Gefühl der Billigung oder
Mißbilligung, an die Angelegenheit seines eig¬
nen erweiterten Selbst, das nur als Theil des
Ganzen sich fühlt, und nur im gefälligen Gan¬
zen sich ertragen kann, unabtrennbar ange¬
knüpft; die Sichbildung zu einem solchen Auge
wäre somit ein sicheres und das einzige Mit¬
tel, das einer Nation, die ihre Selbstständig¬
keit, und mit ihr allen Einfluß auf die öffent¬
liche Furcht und Hoffnung verloren hat, übrig
bliebe, um aus der erduldeten Vernichtung sich

nen und unordentlichen, eines unwuͤrdigen
und ehreloſen Daſeyns ſeiner ſelbſt und ſeines
verbruͤderten Stammes, ohne Ruͤkſicht auf
das, was davon fuͤr ſein ſinnliches Wohlſeyn
zu fuͤrchten oder zu hoffen ſey, ihm innig wehe
thue, und daß dieſer Schmerz dem Beſitzer ei¬
nes ſolchen Auges, abermals ganz unabhaͤngig
von ſinnlicher Furcht oder Hoffnung, keine Ruhe
laſſe, bis er, ſo viel an ihm iſt, den ihm mi߬
faͤlligen Zuſtand aufgehoben, und den, der ihm
allein gefallen kann, an ſeine Stelle geſezt ha¬
be. Im Beſitzer eines ſolchen Auges iſt die
Angelegenheit des ihn umgebenden Ganzen,
durch das treibende Gefuͤhl der Billigung oder
Mißbilligung, an die Angelegenheit ſeines eig¬
nen erweiterten Selbſt, das nur als Theil des
Ganzen ſich fuͤhlt, und nur im gefaͤlligen Gan¬
zen ſich ertragen kann, unabtrennbar ange¬
knuͤpft; die Sichbildung zu einem ſolchen Auge
waͤre ſomit ein ſicheres und das einzige Mit¬
tel, das einer Nation, die ihre Selbſtſtaͤndig¬
keit, und mit ihr allen Einfluß auf die oͤffent¬
liche Furcht und Hoffnung verloren hat, uͤbrig
bliebe, um aus der erduldeten Vernichtung ſich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0042" n="36"/>
nen und unordentlichen, eines unwu&#x0364;rdigen<lb/>
und ehrelo&#x017F;en Da&#x017F;eyns &#x017F;einer &#x017F;elb&#x017F;t und &#x017F;eines<lb/>
verbru&#x0364;derten Stammes, ohne Ru&#x0364;k&#x017F;icht auf<lb/>
das, was davon fu&#x0364;r &#x017F;ein &#x017F;innliches Wohl&#x017F;eyn<lb/>
zu fu&#x0364;rchten oder zu hoffen &#x017F;ey, ihm innig wehe<lb/>
thue, und daß die&#x017F;er Schmerz dem Be&#x017F;itzer ei¬<lb/>
nes &#x017F;olchen Auges, abermals ganz unabha&#x0364;ngig<lb/>
von &#x017F;innlicher Furcht oder Hoffnung, keine Ruhe<lb/>
la&#x017F;&#x017F;e, bis er, &#x017F;o viel an ihm i&#x017F;t, den ihm mi߬<lb/>
fa&#x0364;lligen Zu&#x017F;tand aufgehoben, und den, der ihm<lb/>
allein gefallen kann, an &#x017F;eine Stelle ge&#x017F;ezt ha¬<lb/>
be. Im Be&#x017F;itzer eines &#x017F;olchen Auges i&#x017F;t die<lb/>
Angelegenheit des ihn umgebenden Ganzen,<lb/>
durch das treibende Gefu&#x0364;hl der Billigung oder<lb/>
Mißbilligung, an die Angelegenheit &#x017F;eines eig¬<lb/>
nen erweiterten Selb&#x017F;t, das nur als Theil des<lb/>
Ganzen &#x017F;ich fu&#x0364;hlt, und nur im gefa&#x0364;lligen Gan¬<lb/>
zen &#x017F;ich ertragen kann, unabtrennbar ange¬<lb/>
knu&#x0364;pft; die Sichbildung zu einem &#x017F;olchen Auge<lb/>
wa&#x0364;re &#x017F;omit ein &#x017F;icheres und das einzige Mit¬<lb/>
tel, das einer Nation, die ihre Selb&#x017F;t&#x017F;ta&#x0364;ndig¬<lb/>
keit, und mit ihr allen Einfluß auf die o&#x0364;ffent¬<lb/>
liche Furcht und Hoffnung verloren hat, u&#x0364;brig<lb/>
bliebe, um aus der erduldeten Vernichtung &#x017F;ich<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0042] nen und unordentlichen, eines unwuͤrdigen und ehreloſen Daſeyns ſeiner ſelbſt und ſeines verbruͤderten Stammes, ohne Ruͤkſicht auf das, was davon fuͤr ſein ſinnliches Wohlſeyn zu fuͤrchten oder zu hoffen ſey, ihm innig wehe thue, und daß dieſer Schmerz dem Beſitzer ei¬ nes ſolchen Auges, abermals ganz unabhaͤngig von ſinnlicher Furcht oder Hoffnung, keine Ruhe laſſe, bis er, ſo viel an ihm iſt, den ihm mi߬ faͤlligen Zuſtand aufgehoben, und den, der ihm allein gefallen kann, an ſeine Stelle geſezt ha¬ be. Im Beſitzer eines ſolchen Auges iſt die Angelegenheit des ihn umgebenden Ganzen, durch das treibende Gefuͤhl der Billigung oder Mißbilligung, an die Angelegenheit ſeines eig¬ nen erweiterten Selbſt, das nur als Theil des Ganzen ſich fuͤhlt, und nur im gefaͤlligen Gan¬ zen ſich ertragen kann, unabtrennbar ange¬ knuͤpft; die Sichbildung zu einem ſolchen Auge waͤre ſomit ein ſicheres und das einzige Mit¬ tel, das einer Nation, die ihre Selbſtſtaͤndig¬ keit, und mit ihr allen Einfluß auf die oͤffent¬ liche Furcht und Hoffnung verloren hat, uͤbrig bliebe, um aus der erduldeten Vernichtung ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808/42
Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808/42>, abgerufen am 23.11.2024.