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Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794.

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solches Stückwerk ist, wie das wirkliche Wissen so vie-
ler Menschen; wenn ursprünglich eine Menge Fäden
in unserm Geiste liegen, die unter sich in keinem Punkte
zusammenhängen, noch zusammengehängt werden kön-
nen, so vermögen wir abermals nicht gegen unsre Na-
tur zu streiten; unser Wissen ist, so weit es sich er-
streckt, zwar sicher; aber es ist kein einiges Wissen,
sondern es sind viele Wissenschaften. -- Unsre Woh-
nung stünde dann zwar fest, aber es wäre nicht ein
einiges zusammenhängendes Gebäude, sondern ein
Aggregat von Kammern, aus deren keiner wir in die
andre übergehen könnten; es wäre eine Wohnung, in
der wir uns immer verirren, und nie einheimisch wer-
den würden. Es wäre kein Licht darin, und wir
blieben bei allen unsern Reichthümern arm, weil
wir dieselben nie überschlagen, nie als ein Ganzes
betrachten, und nie wissen könnten, was wir ei-
gentlich besässen; wir könnten nie einem Theil der-
selben zur Verbesserung des übrigen anwenden, weil
kein Theil sich auf das übrige bezöge. Noch mehr,
unser Wissen wäre nie vollendet; wir müssten täglich
erwarten, dass eine neue angebohrne Wahrheit sich in
uns äussere, oder die Erfahrung uns ein neues Einfa-
ches geben würde. Wir müssten immer bereit seyn,
uns irgendwo ein neues Häuschen anzubauen. -- Dann
wäre keine allgemeine Wissenschaftslehre nöthig, um
andre Wissenschaften zu begründen. Jede wäre auf sich
selbst gegründet. Es würden so viele Wissenschaften
geben, als es einzelne unmittelbar gewisse Grund-
sätze gäbe.


Soll

ſolches Stückwerk iſt, wie das wirkliche Wiſſen ſo vie-
ler Menſchen; wenn urſprünglich eine Menge Fäden
in unſerm Geiſte liegen, die unter ſich in keinem Punkte
zuſammenhängen, noch zuſammengehängt werden kön-
nen, ſo vermögen wir abermals nicht gegen unſre Na-
tur zu ſtreiten; unſer Wiſſen iſt, ſo weit es ſich er-
ſtreckt, zwar ſicher; aber es iſt kein einiges Wiſſen,
ſondern es ſind viele Wiſſenſchaften. — Unſre Woh-
nung ſtünde dann zwar feſt, aber es wäre nicht ein
einiges zuſammenhängendes Gebäude, ſondern ein
Aggregat von Kammern, aus deren keiner wir in die
andre übergehen könnten; es wäre eine Wohnung, in
der wir uns immer verirren, und nie einheimiſch wer-
den würden. Es wäre kein Licht darin, und wir
blieben bei allen unſern Reichthümern arm, weil
wir dieſelben nie überſchlagen, nie als ein Ganzes
betrachten, und nie wiſſen könnten, was wir ei-
gentlich beſäſsen; wir könnten nie einem Theil der-
ſelben zur Verbeſſerung des übrigen anwenden, weil
kein Theil ſich auf das übrige bezöge. Noch mehr,
unſer Wiſſen wäre nie vollendet; wir müſsten täglich
erwarten, daſs eine neue angebohrne Wahrheit ſich in
uns äuſſere, oder die Erfahrung uns ein neues Einfa-
ches geben würde. Wir müſsten immer bereit ſeyn,
uns irgendwo ein neues Häuschen anzubauen. — Dann
wäre keine allgemeine Wiſſenſchaftslehre nöthig, um
andre Wiſſenſchaften zu begründen. Jede wäre auf ſich
ſelbſt gegründet. Es würden ſo viele Wiſſenſchaften
geben, als es einzelne unmittelbar gewiſſe Grund-
ſätze gäbe.


Soll
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[28/0036] ſolches Stückwerk iſt, wie das wirkliche Wiſſen ſo vie- ler Menſchen; wenn urſprünglich eine Menge Fäden in unſerm Geiſte liegen, die unter ſich in keinem Punkte zuſammenhängen, noch zuſammengehängt werden kön- nen, ſo vermögen wir abermals nicht gegen unſre Na- tur zu ſtreiten; unſer Wiſſen iſt, ſo weit es ſich er- ſtreckt, zwar ſicher; aber es iſt kein einiges Wiſſen, ſondern es ſind viele Wiſſenſchaften. — Unſre Woh- nung ſtünde dann zwar feſt, aber es wäre nicht ein einiges zuſammenhängendes Gebäude, ſondern ein Aggregat von Kammern, aus deren keiner wir in die andre übergehen könnten; es wäre eine Wohnung, in der wir uns immer verirren, und nie einheimiſch wer- den würden. Es wäre kein Licht darin, und wir blieben bei allen unſern Reichthümern arm, weil wir dieſelben nie überſchlagen, nie als ein Ganzes betrachten, und nie wiſſen könnten, was wir ei- gentlich beſäſsen; wir könnten nie einem Theil der- ſelben zur Verbeſſerung des übrigen anwenden, weil kein Theil ſich auf das übrige bezöge. Noch mehr, unſer Wiſſen wäre nie vollendet; wir müſsten täglich erwarten, daſs eine neue angebohrne Wahrheit ſich in uns äuſſere, oder die Erfahrung uns ein neues Einfa- ches geben würde. Wir müſsten immer bereit ſeyn, uns irgendwo ein neues Häuschen anzubauen. — Dann wäre keine allgemeine Wiſſenſchaftslehre nöthig, um andre Wiſſenſchaften zu begründen. Jede wäre auf ſich ſelbſt gegründet. Es würden ſo viele Wiſſenſchaften geben, als es einzelne unmittelbar gewiſſe Grund- ſätze gäbe. Soll

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Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794/36>, abgerufen am 21.11.2024.