Nicht mehr der Welt greifbarer Körperlichkeit scheinen wir uns gegenüber zu befinden; es ist nicht die alltägliche Welt, der Schauplatz unseres Lebens und Handelns, der Gegen¬ stand unseres Wissens und Erkennens; und doch ist es dieselbe Welt, die wir kennen, aber nun gleichsam an einem Festtag gesehen. Wir befinden uns in einem traum¬ haften Zustand, und die Thatsache der sichtbaren Er¬ scheinung allein ist es, die zu unseren staunenden Sinnen spricht. Wir vergessen uns selbst, wir versenken uns in den schauenden Zustand, und indem so das erscheinende Dasein der Dinge mit immer größerer Macht uns ent¬ gegentritt, immer unmittelbarer sich uns darbietet, unser ganzes Sein erfüllt und schließlich in sich aufzunehmen scheint, meinen wir, einer Offenbarung jedes Naturgeheim¬ nisses beizuwohnen, im Vergleich zu der uns alle mühsam errungene Kenntniß als ein armseliges Stückwerk erscheinen muß, und die uns um so überzeugender dünkt, als sie uns mühelos zu theil wird und keinen Beweis und keine Rechen¬ schaft fordert. Wer hätte nicht schon solche Augenblicke erlebt, in denen die Isolirung der sinnlichen Wahrnehmung mit einer besonderen Reizbarkeit des Gefühls zusammen¬ traf und jene Stimmung erzeugte, in der man sich der Natur in viel umfassenderer und eindringlicherer Weise zu bemächtigen meinte, als dies je im praktischen oder theoreti¬ schen Sinne gelungen war? Wer solchen Anschauungsge¬ nusses fähig ist, der wird, wo er ihn der Natur nur unter besonderen, seltenen Umständen verdanken kann, sich dem Reiche der Kunst zuwenden, und hier eine reiche, sich mühe¬
Fiedler, Ursprung. 7
Nicht mehr der Welt greifbarer Körperlichkeit ſcheinen wir uns gegenüber zu befinden; es iſt nicht die alltägliche Welt, der Schauplatz unſeres Lebens und Handelns, der Gegen¬ ſtand unſeres Wiſſens und Erkennens; und doch iſt es dieſelbe Welt, die wir kennen, aber nun gleichſam an einem Feſttag geſehen. Wir befinden uns in einem traum¬ haften Zuſtand, und die Thatſache der ſichtbaren Er¬ ſcheinung allein iſt es, die zu unſeren ſtaunenden Sinnen ſpricht. Wir vergeſſen uns ſelbſt, wir verſenken uns in den ſchauenden Zuſtand, und indem ſo das erſcheinende Daſein der Dinge mit immer größerer Macht uns ent¬ gegentritt, immer unmittelbarer ſich uns darbietet, unſer ganzes Sein erfüllt und ſchließlich in ſich aufzunehmen ſcheint, meinen wir, einer Offenbarung jedes Naturgeheim¬ niſſes beizuwohnen, im Vergleich zu der uns alle mühſam errungene Kenntniß als ein armſeliges Stückwerk erſcheinen muß, und die uns um ſo überzeugender dünkt, als ſie uns mühelos zu theil wird und keinen Beweis und keine Rechen¬ ſchaft fordert. Wer hätte nicht ſchon ſolche Augenblicke erlebt, in denen die Iſolirung der ſinnlichen Wahrnehmung mit einer beſonderen Reizbarkeit des Gefühls zuſammen¬ traf und jene Stimmung erzeugte, in der man ſich der Natur in viel umfaſſenderer und eindringlicherer Weiſe zu bemächtigen meinte, als dies je im praktiſchen oder theoreti¬ ſchen Sinne gelungen war? Wer ſolchen Anſchauungsge¬ nuſſes fähig iſt, der wird, wo er ihn der Natur nur unter beſonderen, ſeltenen Umſtänden verdanken kann, ſich dem Reiche der Kunſt zuwenden, und hier eine reiche, ſich mühe¬
Fiedler, Urſprung. 7
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Nicht mehr der Welt greifbarer Körperlichkeit ſcheinen wir
uns gegenüber zu befinden; es iſt nicht die alltägliche Welt,
der Schauplatz unſeres Lebens und Handelns, der Gegen¬
ſtand unſeres Wiſſens und Erkennens; und doch iſt es
dieſelbe Welt, die wir kennen, aber nun gleichſam an
einem Feſttag geſehen. Wir befinden uns in einem traum¬
haften Zuſtand, und die Thatſache der ſichtbaren Er¬
ſcheinung allein iſt es, die zu unſeren ſtaunenden Sinnen
ſpricht. Wir vergeſſen uns ſelbſt, wir verſenken uns in
den ſchauenden Zuſtand, und indem ſo das erſcheinende
Daſein der Dinge mit immer größerer Macht uns ent¬
gegentritt, immer unmittelbarer ſich uns darbietet, unſer
ganzes Sein erfüllt und ſchließlich in ſich aufzunehmen
ſcheint, meinen wir, einer Offenbarung jedes Naturgeheim¬
niſſes beizuwohnen, im Vergleich zu der uns alle mühſam
errungene Kenntniß als ein armſeliges Stückwerk erſcheinen
muß, und die uns um ſo überzeugender dünkt, als ſie uns
mühelos zu theil wird und keinen Beweis und keine Rechen¬
ſchaft fordert. Wer hätte nicht ſchon ſolche Augenblicke
erlebt, in denen die Iſolirung der ſinnlichen Wahrnehmung
mit einer beſonderen Reizbarkeit des Gefühls zuſammen¬
traf und jene Stimmung erzeugte, in der man ſich der
Natur in viel umfaſſenderer und eindringlicherer Weiſe zu
bemächtigen meinte, als dies je im praktiſchen oder theoreti¬
ſchen Sinne gelungen war? Wer ſolchen Anſchauungsge¬
nuſſes fähig iſt, der wird, wo er ihn der Natur nur unter
beſonderen, ſeltenen Umſtänden verdanken kann, ſich dem
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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/109>, abgerufen am 17.07.2024.
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