Das Geheimniß sogenannter Stilisirung besteht darin, daß uns auch der gewöhnlichste Gegenstand des täglichen Lebens als eine zum bestimmten Gebilde entwickelte Gesichtsvor¬ stellung gegenwärtig zu werden vermag.
So wenden sich die Erzeugnisse jener bevorzugten Zeiten der Kunst, von den Werken an, die nur um der künstlerischen Bethätigung willen vorhanden sind, bis hinab in die weiten Gebiete aller der Gegenstände, die dem täg¬ lichen Leben und dem Gebrauche dienen, vornehmlich an das Auge, nicht aber, um durch den Gesichtssinn auf die Gefühls- und Ideenwelt zu wirken, sondern in dem Sinne, daß eine weitverbreitete Begabung, was sie berührt, aus der Verworrenheit, in der alles beharrt, solange es der Concurrenz der Sinne, der Herrschaft der Gefühle, der Verstrickung geistiger Beziehungen unterworfen bleibt, er¬ löst und in den unmittelbaren Ausdruckswerth eines sicht¬ baren Seins verwandelt. In nichts anderem besteht der Zauber, der auf den Werken solcher Zeiten ruht, und der dieselben für das kundige Auge wie verklärt erscheinen läßt.
Wenn aber schon in jenen Zeiten großer und weit¬ verbreiteter Begabung keineswegs überall jenes Streben so rein und mächtig auftritt, daß es zu einem vollendeten Gelingen führt, so kommt, sobald jene Begabung schwindet, vielfache Verwirrung zur Herrschaft. Damals war die gesammte künstlerische Thätigkeit, welchen Bedürfnissen sie auch sonst noch genügen mochte, von dem einen Bedürfniß durchdrungen, dem alle anderen Rücksichten geopfert wur¬ den, das Sein auf seine Sichtbarkeit zu reduciren und
Das Geheimniß ſogenannter Stiliſirung beſteht darin, daß uns auch der gewöhnlichſte Gegenſtand des täglichen Lebens als eine zum beſtimmten Gebilde entwickelte Geſichtsvor¬ ſtellung gegenwärtig zu werden vermag.
So wenden ſich die Erzeugniſſe jener bevorzugten Zeiten der Kunſt, von den Werken an, die nur um der künſtleriſchen Bethätigung willen vorhanden ſind, bis hinab in die weiten Gebiete aller der Gegenſtände, die dem täg¬ lichen Leben und dem Gebrauche dienen, vornehmlich an das Auge, nicht aber, um durch den Geſichtsſinn auf die Gefühls- und Ideenwelt zu wirken, ſondern in dem Sinne, daß eine weitverbreitete Begabung, was ſie berührt, aus der Verworrenheit, in der alles beharrt, ſolange es der Concurrenz der Sinne, der Herrſchaft der Gefühle, der Verſtrickung geiſtiger Beziehungen unterworfen bleibt, er¬ löſt und in den unmittelbaren Ausdruckswerth eines ſicht¬ baren Seins verwandelt. In nichts anderem beſteht der Zauber, der auf den Werken ſolcher Zeiten ruht, und der dieſelben für das kundige Auge wie verklärt erſcheinen läßt.
Wenn aber ſchon in jenen Zeiten großer und weit¬ verbreiteter Begabung keineswegs überall jenes Streben ſo rein und mächtig auftritt, daß es zu einem vollendeten Gelingen führt, ſo kommt, ſobald jene Begabung ſchwindet, vielfache Verwirrung zur Herrſchaft. Damals war die geſammte künſtleriſche Thätigkeit, welchen Bedürfniſſen ſie auch ſonſt noch genügen mochte, von dem einen Bedürfniß durchdrungen, dem alle anderen Rückſichten geopfert wur¬ den, das Sein auf ſeine Sichtbarkeit zu reduciren und
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Das Geheimniß ſogenannter Stiliſirung beſteht darin, daß
uns auch der gewöhnlichſte Gegenſtand des täglichen Lebens
als eine zum beſtimmten Gebilde entwickelte Geſichtsvor¬
ſtellung gegenwärtig zu werden vermag.
So wenden ſich die Erzeugniſſe jener bevorzugten
Zeiten der Kunſt, von den Werken an, die nur um der
künſtleriſchen Bethätigung willen vorhanden ſind, bis hinab
in die weiten Gebiete aller der Gegenſtände, die dem täg¬
lichen Leben und dem Gebrauche dienen, vornehmlich an
das Auge, nicht aber, um durch den Geſichtsſinn auf die
Gefühls- und Ideenwelt zu wirken, ſondern in dem Sinne,
daß eine weitverbreitete Begabung, was ſie berührt, aus
der Verworrenheit, in der alles beharrt, ſolange es der
Concurrenz der Sinne, der Herrſchaft der Gefühle, der
Verſtrickung geiſtiger Beziehungen unterworfen bleibt, er¬
löſt und in den unmittelbaren Ausdruckswerth eines ſicht¬
baren Seins verwandelt. In nichts anderem beſteht der
Zauber, der auf den Werken ſolcher Zeiten ruht, und der
dieſelben für das kundige Auge wie verklärt erſcheinen läßt.
Wenn aber ſchon in jenen Zeiten großer und weit¬
verbreiteter Begabung keineswegs überall jenes Streben
ſo rein und mächtig auftritt, daß es zu einem vollendeten
Gelingen führt, ſo kommt, ſobald jene Begabung ſchwindet,
vielfache Verwirrung zur Herrſchaft. Damals war die
geſammte künſtleriſche Thätigkeit, welchen Bedürfniſſen ſie
auch ſonſt noch genügen mochte, von dem einen Bedürfniß
durchdrungen, dem alle anderen Rückſichten geopfert wur¬
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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/171>, abgerufen am 16.07.2024.
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