Fischer, Emil: Gedächtnisrede auf Jacobus Henricus van’t Hoff. Berlin, 1911.
<TEI> <text> <body> <div> <pb facs="#f0007" n="7"/> <p><lb/> Gedächtnisrede auf Jacobus Henricus vanʼt Hoff. 5</p> <p><lb/> heute viel gebrauchten Atommodelle, speziell das Modell des Kohlenstoff-<lb/> atoms kennen, und der geometrische Gedanke, der darin liegt, aber von<lb/> Kekule als verfrüht beiseite geschoben wurde, hat zweifelsohne als Keim<lb/> bei van't Hoffs stereochemischen Vorstellungen mitgewirkt. Zur Reife<lb/> sind diese aber erst gelangt nach einem Aufenthalt in Paris, wo er mit<lb/> dem von Louis Pasteur klar entwickelten Begriff der molekularen Asym-<lb/> metrie bekannt wurde.<lb/> Die Übertragung der Pasteurschen Idee auf die Strukturchemie und<lb/> das Kekulesche Modell des Kohlenstoffatoms war dann der glückliche<lb/> Gedanke, durch den der Begriff des asymmetrischen Kohlenstoffatoms und<lb/> die moderne Stereochemie entstand.<lb/> Die erste Veröffentlichung seiner Entdeckung gab van’t Hoff im<lb/> September 1874 durch eine in holländischer Sprache geschriebene Broschüre<lb/> von nur 11 Seiten, der er im folgenden Jahre eine größere mit dem Titel<lb/> »La Chimie dans lʼEspace« folgen ließ. Hier sind die Folgerungen der<lb/> neuen Betrachtung auch für komplizierte Fälle mit großer Konsequenz ge-<lb/> zogen.<lb/> Über die Aufnahme dieser Ideen durch die zeitgenössischen Chemiker<lb/> begegnet man vielfach der Meinung, daß die meisten sich ablehnend oder<lb/> doch gleichgültig verhalten haben, selbst nachdem J. Wislicenus einer<lb/> deutschen Übersetzung des Werkes von Hermann im Jahre 1877 eine<lb/> warme Empfehlung mit auf den Weg gegeben hatte.<lb/> Ich muß dieser Meinung widersprechen, denn ich erinnere mich sehr<lb/> wohl, wie mein Lehrer Adolf v. Baeyer im Sommer 1875 eines Tages,<lb/> als ihm vanʼt Hoff die französische Broschüre mit einigen Modellen zu-<lb/> geschickt hatte, im Laboratorium erschien und uns erklärte: »Da ist wirklich<lb/> mal wieder ein neuer guter Gedanke in unsere Wissenschaft gekomınen,<lb/> der reiche Früchte tragen wird«. Beim Anblick der Modelle und dem<lb/> Vergleich mit den Strukturformeln der Weinsäure, Fumar- und Maleinsäure<lb/> waren auch wir Jüngeren sofort in der Lage, uns von der Brauchbarkcit<lb/> der neuen Theorie zu überzeugen, und sie ist dann vielfach Gegenstand<lb/> unserer Gespräche gewesen. Ernsten Widerspruch hat sie auch niemals<lb/> erfahren, denn ein Angriff von H. Kolbe aus dem Jahre 1878, der gleich-<lb/> zeitig gegen Struktur- und Stereochemie gerichtet war und mehr mit<lb/> groben Witzen als mit sachlichen Gründen operierte, hat in der chemischen<lb/> Welt sicherlich das Gegenteil von der beabsichtigten Wirkung ausgeübt.</p> </div> </body> </text> </TEI> [7/0007]
Gedächtnisrede auf Jacobus Henricus vanʼt Hoff. 5
heute viel gebrauchten Atommodelle, speziell das Modell des Kohlenstoff-
atoms kennen, und der geometrische Gedanke, der darin liegt, aber von
Kekule als verfrüht beiseite geschoben wurde, hat zweifelsohne als Keim
bei van't Hoffs stereochemischen Vorstellungen mitgewirkt. Zur Reife
sind diese aber erst gelangt nach einem Aufenthalt in Paris, wo er mit
dem von Louis Pasteur klar entwickelten Begriff der molekularen Asym-
metrie bekannt wurde.
Die Übertragung der Pasteurschen Idee auf die Strukturchemie und
das Kekulesche Modell des Kohlenstoffatoms war dann der glückliche
Gedanke, durch den der Begriff des asymmetrischen Kohlenstoffatoms und
die moderne Stereochemie entstand.
Die erste Veröffentlichung seiner Entdeckung gab van’t Hoff im
September 1874 durch eine in holländischer Sprache geschriebene Broschüre
von nur 11 Seiten, der er im folgenden Jahre eine größere mit dem Titel
»La Chimie dans lʼEspace« folgen ließ. Hier sind die Folgerungen der
neuen Betrachtung auch für komplizierte Fälle mit großer Konsequenz ge-
zogen.
Über die Aufnahme dieser Ideen durch die zeitgenössischen Chemiker
begegnet man vielfach der Meinung, daß die meisten sich ablehnend oder
doch gleichgültig verhalten haben, selbst nachdem J. Wislicenus einer
deutschen Übersetzung des Werkes von Hermann im Jahre 1877 eine
warme Empfehlung mit auf den Weg gegeben hatte.
Ich muß dieser Meinung widersprechen, denn ich erinnere mich sehr
wohl, wie mein Lehrer Adolf v. Baeyer im Sommer 1875 eines Tages,
als ihm vanʼt Hoff die französische Broschüre mit einigen Modellen zu-
geschickt hatte, im Laboratorium erschien und uns erklärte: »Da ist wirklich
mal wieder ein neuer guter Gedanke in unsere Wissenschaft gekomınen,
der reiche Früchte tragen wird«. Beim Anblick der Modelle und dem
Vergleich mit den Strukturformeln der Weinsäure, Fumar- und Maleinsäure
waren auch wir Jüngeren sofort in der Lage, uns von der Brauchbarkcit
der neuen Theorie zu überzeugen, und sie ist dann vielfach Gegenstand
unserer Gespräche gewesen. Ernsten Widerspruch hat sie auch niemals
erfahren, denn ein Angriff von H. Kolbe aus dem Jahre 1878, der gleich-
zeitig gegen Struktur- und Stereochemie gerichtet war und mehr mit
groben Witzen als mit sachlichen Gründen operierte, hat in der chemischen
Welt sicherlich das Gegenteil von der beabsichtigten Wirkung ausgeübt.
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