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Fischer, Emil: Gedächtnisrede auf Jacobus Henricus van’t Hoff. Berlin, 1911.

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Gedächtnisrede auf Jacobus Henricus van't Hoff. 7


standen und ebenfalls so geschickt verwertet worden, daß er mit vollem
Recht als Mitbegründer der Stereochemie gilt. Niemand hat das mehr
anerkannt als van't Hoff selbst, der sogar eine spätere Auflage seiner
Schrift Hrn. Le Bel widmete. Von Le Bel sind auch wertvolle Versuche
zur experimentellen Prüfung des Gedankens angestellt worden, und ihm
verdanken wir ferner die kühne Ausdehnung der Spekulation auf die
asymmetrischen Stickstoffverbindungen.
Aber worin van't Hoff unbestritten voransteht, das ist die außer-
ordentlich sorgfältige und ausdauernde Durchmusterung aller Beobachtungen
auf dem weiten Gebiete der optisch aktiven, der ungesättigten und der
zyklischen Verbindungen, im Lichte seiner Theorie, deren Ausbau ihn bis
in die letzten Lebensjahre beschäftigte.
Am meisten hat mich dabei immer die seltene Vereinigung von kühner
Spekulation mit vorsichtiger Kritik überrascht, denn van't Hoff ist stets
dort stehengeblieben, wo der tatsächliche Untergrund schwankend wurde
und überließ es anderen, die Grenzen zu überschreiten, wo die Hypothese
mit den Tatsachen in Widerspruch kommen konnte. Nur so ist es möglich
gewesen, daß kaum eine seiner Voraussagungen zurückgenommen werden
mußte, und erst in allerletzter Zeit haben sich Erscheinungen gezeigt, die
eine kleine Abänderung seiner Vorstellungen nötig machen.
Wenige Monate nach dem Erscheinen der ersten Schrift über die
Stereochemie erwarb van't Hoff im Alter von 22 Jahren zu Utrecht den
Doktortitel, aber merkwürdigerweise nicht für Chemie, obschon eine kleine
Experimentaluntersuchung über Cyanessigsäure und Malonsäure den Inhalt
seiner Dissertation bildete, sondern für Mathematik und Physik. Vielleicht
hat die Fakultät zu Utrecht damit der wohlberechtigten Hoffnung Aus-
druck geben wollen, daß der junge Doktor diese Wissenschaften noch mit
größerem Erfolge in den Dienst der Chemie stellen werde, als es bereits
durch die stereochemischen Betrachtungen geschehen war.
Nach der Promotion begann die Sorge um den Erwerb einer passen-
den Lebensstellung, die aber erst zwei Jahre später durch die Anstellung
als Dozent an der Tierarzneischule zu Utrecht ihre Lösung fand. In der
Zwischenzeit befriedigte er seine bescheidenen materiellen Lebensansprüche
durch Erteilung von Privatunterricht.
Trotz dieser lästigen Nebenbeschäftigung war es für ihn eine Periode
intensivster geistiger Arbeit, deren Früchte zum Teil in dem zweibändigen


Gedächtnisrede auf Jacobus Henricus vanʼt Hoff. 7


standen und ebenfalls so geschickt verwertet worden, daß er mit vollem
Recht als Mitbegründer der Stereochemie gilt. Niemand hat das mehr
anerkannt als vanʼt Hoff selbst, der sogar eine spätere Auflage seiner
Schrift Hrn. Le Bel widmete. Von Le Bel sind auch wertvolle Versuche
zur experimentellen Prüfung des Gedankens angestellt worden, und ihm
verdanken wir ferner die kühne Ausdehnung der Spekulation auf die
asymmetrischen Stickstoffverbindungen.
Aber worin vanʼt Hoff unbestritten voransteht, das ist die außer-
ordentlich sorgfältige und ausdauernde Durchmusterung aller Beobachtungen
auf dem weiten Gebiete der optisch aktiven, der ungesättigten und der
zyklischen Verbindungen, im Lichte seiner Theorie, deren Ausbau ihn bis
in die letzten Lebensjahre beschäftigte.
Am meisten hat mich dabei immer die seltene Vereinigung von kühner
Spekulation mit vorsichtiger Kritik überrascht, denn vanʼt Hoff ist stets
dort stehengeblieben, wo der tatsächliche Untergrund schwankend wurde
und überließ es anderen, die Grenzen zu überschreiten, wo die Hypothese
mit den Tatsachen in Widerspruch kommen konnte. Nur so ist es möglich
gewesen, daß kaum eine seiner Voraussagungen zurückgenommen werden
mußte, und erst in allerletzter Zeit haben sich Erscheinungen gezeigt, die
eine kleine Abänderung seiner Vorstellungen nötig machen.
Wenige Monate nach dem Erscheinen der ersten Schrift über die
Stereochemie erwarb van’t Hoff im Alter von 22 Jahren zu Utrecht den
Doktortitel, aber merkwürdigerweise nicht für Chemie, obschon eine kleine
Experimentaluntersuchung über Cyanessigsäure und Malonsäure den Inhalt
seiner Dissertation bildete, sondern für Mathematik und Physik. Vielleicht
hat die Fakultät zu Utrecht damit der wohlberechtigten Hoffnung Aus-
druck geben wollen, daß der junge Doktor diese Wissenschaften noch mit
größerem Erfolge in den Dienst der Chemie stellen werde, als es bereits
durch die stereochemischen Betrachtungen geschehen war.
Nach der Promotion begann die Sorge um den Erwerb einer passen-
den Lebensstellung, die aber erst zwei Jahre später durch die Anstellung
als Dozent an der Tierarzneischule zu Utrecht ihre Lösung fand. In der
Zwischenzeit befriedigte er seine bescheidenen materiellen Lebensansprüche
durch Erteilung von Privatunterricht.
Trotz dieser lästigen Nebenbeschäftigung war es für ihn eine Periode
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[9/0009] Gedächtnisrede auf Jacobus Henricus vanʼt Hoff. 7 standen und ebenfalls so geschickt verwertet worden, daß er mit vollem Recht als Mitbegründer der Stereochemie gilt. Niemand hat das mehr anerkannt als vanʼt Hoff selbst, der sogar eine spätere Auflage seiner Schrift Hrn. Le Bel widmete. Von Le Bel sind auch wertvolle Versuche zur experimentellen Prüfung des Gedankens angestellt worden, und ihm verdanken wir ferner die kühne Ausdehnung der Spekulation auf die asymmetrischen Stickstoffverbindungen. Aber worin vanʼt Hoff unbestritten voransteht, das ist die außer- ordentlich sorgfältige und ausdauernde Durchmusterung aller Beobachtungen auf dem weiten Gebiete der optisch aktiven, der ungesättigten und der zyklischen Verbindungen, im Lichte seiner Theorie, deren Ausbau ihn bis in die letzten Lebensjahre beschäftigte. Am meisten hat mich dabei immer die seltene Vereinigung von kühner Spekulation mit vorsichtiger Kritik überrascht, denn vanʼt Hoff ist stets dort stehengeblieben, wo der tatsächliche Untergrund schwankend wurde und überließ es anderen, die Grenzen zu überschreiten, wo die Hypothese mit den Tatsachen in Widerspruch kommen konnte. Nur so ist es möglich gewesen, daß kaum eine seiner Voraussagungen zurückgenommen werden mußte, und erst in allerletzter Zeit haben sich Erscheinungen gezeigt, die eine kleine Abänderung seiner Vorstellungen nötig machen. Wenige Monate nach dem Erscheinen der ersten Schrift über die Stereochemie erwarb van’t Hoff im Alter von 22 Jahren zu Utrecht den Doktortitel, aber merkwürdigerweise nicht für Chemie, obschon eine kleine Experimentaluntersuchung über Cyanessigsäure und Malonsäure den Inhalt seiner Dissertation bildete, sondern für Mathematik und Physik. Vielleicht hat die Fakultät zu Utrecht damit der wohlberechtigten Hoffnung Aus- druck geben wollen, daß der junge Doktor diese Wissenschaften noch mit größerem Erfolge in den Dienst der Chemie stellen werde, als es bereits durch die stereochemischen Betrachtungen geschehen war. Nach der Promotion begann die Sorge um den Erwerb einer passen- den Lebensstellung, die aber erst zwei Jahre später durch die Anstellung als Dozent an der Tierarzneischule zu Utrecht ihre Lösung fand. In der Zwischenzeit befriedigte er seine bescheidenen materiellen Lebensansprüche durch Erteilung von Privatunterricht. Trotz dieser lästigen Nebenbeschäftigung war es für ihn eine Periode intensivster geistiger Arbeit, deren Früchte zum Teil in dem zweibändigen

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Zitationshilfe: Fischer, Emil: Gedächtnisrede auf Jacobus Henricus van’t Hoff. Berlin, 1911, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fischer_hoff_1911/9>, abgerufen am 21.11.2024.