Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 3: Ost-Havelland. Berlin, 1873.
gegangenen v. Thümen, und in der Höhe des neuerbauten Es war um die vierte Stunde, als wir aus dem Kirch- Unser Wagen mahlte durch den Sand; so oft wir uns beide in das Schiff der Kirche stürzten und Hals und Beine brachen.
Zum Zeichen deß und zugleich zur Warnung sind Degen, Schwert und Sporen dem Chore gegenüber aufgehängt worden." -- So die Sage. Ich habe schon bei früheren Gelegenheiten ausgeführt, wie die "mythen- bildende Kraft" des Volkes mit Vorliebe, oder vielleicht immer, an solche rein äußerlich gegebenen Dinge anknüpft, vorausgesetzt, daß diese Dinge zugleich unklar und räthselvoll genug sind, um die Phantasie in Bewe- gung zu setzen und die freieste und selbst willkürlichste Auslegung zuzu- lassen. Aber so willkürlich die Auslegung sein mag, sie schwebt nie in der Luft, sie haftet an etwas Gegebenem. Die ganze Gruppe von Sagen, um die es sich hier handelt, könnte man als poetische Mißver- ständnisse bezeichnen. gegangenen v. Thümen, und in der Höhe des neuerbauten Es war um die vierte Stunde, als wir aus dem Kirch- Unſer Wagen mahlte durch den Sand; ſo oft wir uns beide in das Schiff der Kirche ſtürzten und Hals und Beine brachen.
Zum Zeichen deß und zugleich zur Warnung ſind Degen, Schwert und Sporen dem Chore gegenüber aufgehängt worden.“ — So die Sage. Ich habe ſchon bei früheren Gelegenheiten ausgeführt, wie die „mythen- bildende Kraft“ des Volkes mit Vorliebe, oder vielleicht immer, an ſolche rein äußerlich gegebenen Dinge anknüpft, vorausgeſetzt, daß dieſe Dinge zugleich unklar und räthſelvoll genug ſind, um die Phantaſie in Bewe- gung zu ſetzen und die freieſte und ſelbſt willkürlichſte Auslegung zuzu- laſſen. Aber ſo willkürlich die Auslegung ſein mag, ſie ſchwebt nie in der Luft, ſie haftet an etwas Gegebenem. Die ganze Gruppe von Sagen, um die es ſich hier handelt, könnte man als poetiſche Mißver- ſtändniſſe bezeichnen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0396" n="378"/> gegangenen v. Thümen, und in der Höhe des neuerbauten<lb/> Thurmes befinden ſich die im Thümenſchen Winkel bei Alt und<lb/> Jung bekannten „Glocken von Blankenſee.“ Allerlei Sagen<lb/> knüpfen an dieſelben an.</p><lb/> <p>Es war um die vierte Stunde, als wir aus dem Kirch-<lb/> hofsthor wieder in die Dorfgaſſe hinaustraten. Hier hatte ſich<lb/> inzwiſchen das Bild verändert; die Stille des Sonntag-Vor-<lb/> mittags war hin, die Heiterkeit des Nachmittags hatte begonnen.<lb/> Um die Dorf-Linde (ein Anblick, den ich lange nicht gehabt)<lb/> drehte ſich das junge Volk im Ringelreihen, und die Dirnen,<lb/> wie immer tanzluſtiger als das männliche Element, deckten jedes<lb/> Deficit durch Anleihen bei ſich ſelbſt. Wir ſahen dem fröh-<lb/> lichen Treiben zu; hätt’ uns Jemand die Ehre angethan, wir<lb/> hätten, auf jede Gefahr hin, es gewagt. Aber die Verſuchung<lb/> blieb aus.</p><lb/> <p>Unſer Wagen mahlte durch den Sand; ſo oft wir uns<lb/> umſahen, ſahen wir noch die ſpringende Bewegung und die<lb/> rothen Tücher. Dann kam eine Biegung des Weges und das<lb/> Bild war hin. Nur der Baßton der Poſaune begleitete uns<lb/> noch. Jetzt ſetzte er aus. Eine Weile noch horchten wir auf,<lb/> ob er’s war oder nicht. Bis endlich Alles ſtill.</p><lb/> <note xml:id="note-0396" prev="#note-0395" place="foot" n="*)">beide in das Schiff der Kirche ſtürzten und Hals und Beine brachen.<lb/> Zum Zeichen deß und zugleich zur Warnung ſind Degen, Schwert und<lb/> Sporen dem Chore gegenüber aufgehängt worden.“ — So die Sage.<lb/> Ich habe ſchon bei früheren Gelegenheiten ausgeführt, wie die „mythen-<lb/> bildende Kraft“ des Volkes mit Vorliebe, oder vielleicht immer, an ſolche<lb/> rein äußerlich gegebenen Dinge anknüpft, vorausgeſetzt, daß dieſe Dinge<lb/> zugleich unklar und räthſelvoll genug ſind, um die Phantaſie in Bewe-<lb/> gung zu ſetzen und die freieſte und ſelbſt willkürlichſte Auslegung zuzu-<lb/> laſſen. Aber ſo willkürlich die <hi rendition="#g">Auslegung</hi> ſein mag, ſie ſchwebt nie<lb/> in der Luft, ſie haftet an etwas Gegebenem. Die ganze Gruppe von<lb/> Sagen, um die es ſich hier handelt, könnte man als poetiſche Mißver-<lb/> ſtändniſſe bezeichnen.</note> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </body> </text> </TEI> [378/0396]
gegangenen v. Thümen, und in der Höhe des neuerbauten
Thurmes befinden ſich die im Thümenſchen Winkel bei Alt und
Jung bekannten „Glocken von Blankenſee.“ Allerlei Sagen
knüpfen an dieſelben an.
Es war um die vierte Stunde, als wir aus dem Kirch-
hofsthor wieder in die Dorfgaſſe hinaustraten. Hier hatte ſich
inzwiſchen das Bild verändert; die Stille des Sonntag-Vor-
mittags war hin, die Heiterkeit des Nachmittags hatte begonnen.
Um die Dorf-Linde (ein Anblick, den ich lange nicht gehabt)
drehte ſich das junge Volk im Ringelreihen, und die Dirnen,
wie immer tanzluſtiger als das männliche Element, deckten jedes
Deficit durch Anleihen bei ſich ſelbſt. Wir ſahen dem fröh-
lichen Treiben zu; hätt’ uns Jemand die Ehre angethan, wir
hätten, auf jede Gefahr hin, es gewagt. Aber die Verſuchung
blieb aus.
Unſer Wagen mahlte durch den Sand; ſo oft wir uns
umſahen, ſahen wir noch die ſpringende Bewegung und die
rothen Tücher. Dann kam eine Biegung des Weges und das
Bild war hin. Nur der Baßton der Poſaune begleitete uns
noch. Jetzt ſetzte er aus. Eine Weile noch horchten wir auf,
ob er’s war oder nicht. Bis endlich Alles ſtill.
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*) beide in das Schiff der Kirche ſtürzten und Hals und Beine brachen.
Zum Zeichen deß und zugleich zur Warnung ſind Degen, Schwert und
Sporen dem Chore gegenüber aufgehängt worden.“ — So die Sage.
Ich habe ſchon bei früheren Gelegenheiten ausgeführt, wie die „mythen-
bildende Kraft“ des Volkes mit Vorliebe, oder vielleicht immer, an ſolche
rein äußerlich gegebenen Dinge anknüpft, vorausgeſetzt, daß dieſe Dinge
zugleich unklar und räthſelvoll genug ſind, um die Phantaſie in Bewe-
gung zu ſetzen und die freieſte und ſelbſt willkürlichſte Auslegung zuzu-
laſſen. Aber ſo willkürlich die Auslegung ſein mag, ſie ſchwebt nie
in der Luft, ſie haftet an etwas Gegebenem. Die ganze Gruppe von
Sagen, um die es ſich hier handelt, könnte man als poetiſche Mißver-
ſtändniſſe bezeichnen.
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| Zitationshilfe: | Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 3: Ost-Havelland. Berlin, 1873, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg03_1873/396>, abgerufen am 24.11.2024. |
