Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. Leipzig, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

das Gesangbuch. Als sie's aber brachte, sagte die
Alte: "Nein, nich das, das ist das neue. Das
alte will ich, das dicke mit den zwei Klappen." Und
erst als Lene mit dem dicken Gesangbuche wieder
da war, fuhr die Alte fort: "Das hab' ich meiner
Mutter selig auch holen müssen und war noch ein
halbes Kind damals und meine Mutter noch keine
fuffzig und saß ihr auch hier und konnte keine Luft
kriegen und die großen Angstaugen kuckten mich
immer so an. Als ich ihr aber das Porst'sche, das
sie bei der Einsegnung gehabt, unterschob, da wurde
sie ganz still und ist ruhig eingeschlafen. Und das
möcht' ich auch. Ach, Lene. Der Tod ist es nich . . .
Aber das Sterben . . . So, so. Ah, das hilft."

Lene weinte still vor sich hin und weil sie nun
wohl sah, daß der guten alten Frau letzte Stunde
nahe sei, schickte sie zu Frau Dörr und ließ sagen,
"es stehe schlecht und ob Frau Dörr nicht kommen
wolle". Die ließ denn auch zurück sagen, "ja, sie
werde kommen . . .", und um die sechste Stunde kam
sie wirklich mit Lärm und Trara, weil Leisesein,
auch bei Kranken, nicht ihre Sache war. Sie stappste
nur so durch die Stube hin, daß alles schütterte
und klirrte, was auf und neben dem Herde lag,
und dabei verklagte sie Dörr, der immer grad' in
der Stadt sei, wenn er mal zu Hause sein solle,
und immer zu Hause wär', wenn sie ihn zum Kuckuck

das Geſangbuch. Als ſie's aber brachte, ſagte die
Alte: „Nein, nich das, das iſt das neue. Das
alte will ich, das dicke mit den zwei Klappen.“ Und
erſt als Lene mit dem dicken Geſangbuche wieder
da war, fuhr die Alte fort: „Das hab' ich meiner
Mutter ſelig auch holen müſſen und war noch ein
halbes Kind damals und meine Mutter noch keine
fuffzig und ſaß ihr auch hier und konnte keine Luft
kriegen und die großen Angſtaugen kuckten mich
immer ſo an. Als ich ihr aber das Porſt'ſche, das
ſie bei der Einſegnung gehabt, unterſchob, da wurde
ſie ganz ſtill und iſt ruhig eingeſchlafen. Und das
möcht' ich auch. Ach, Lene. Der Tod iſt es nich . . .
Aber das Sterben . . . So, ſo. Ah, das hilft.”

Lene weinte ſtill vor ſich hin und weil ſie nun
wohl ſah, daß der guten alten Frau letzte Stunde
nahe ſei, ſchickte ſie zu Frau Dörr und ließ ſagen,
„es ſtehe ſchlecht und ob Frau Dörr nicht kommen
wolle“. Die ließ denn auch zurück ſagen, „ja, ſie
werde kommen . . .“, und um die ſechſte Stunde kam
ſie wirklich mit Lärm und Trara, weil Leiſeſein,
auch bei Kranken, nicht ihre Sache war. Sie ſtappſte
nur ſo durch die Stube hin, daß alles ſchütterte
und klirrte, was auf und neben dem Herde lag,
und dabei verklagte ſie Dörr, der immer grad' in
der Stadt ſei, wenn er mal zu Hauſe ſein ſolle,
und immer zu Hauſe wär', wenn ſie ihn zum Kuckuck

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0220" n="210"/>
das Ge&#x017F;angbuch. Als &#x017F;ie's aber brachte, &#x017F;agte die<lb/>
Alte: &#x201E;Nein, nich <hi rendition="#g">das</hi>, das i&#x017F;t das neue. Das<lb/>
alte will ich, das dicke mit den zwei Klappen.&#x201C; Und<lb/>
er&#x017F;t als Lene mit dem dicken Ge&#x017F;angbuche wieder<lb/>
da war, fuhr die Alte fort: &#x201E;Das hab' ich meiner<lb/>
Mutter &#x017F;elig auch holen mü&#x017F;&#x017F;en und war noch ein<lb/>
halbes Kind damals und meine Mutter noch keine<lb/>
fuffzig und &#x017F;aß ihr auch hier und konnte keine Luft<lb/>
kriegen und die großen Ang&#x017F;taugen kuckten mich<lb/>
immer &#x017F;o an. Als ich ihr aber das Por&#x017F;t'&#x017F;che, das<lb/>
&#x017F;ie bei der Ein&#x017F;egnung gehabt, unter&#x017F;chob, da wurde<lb/>
&#x017F;ie ganz &#x017F;till und i&#x017F;t ruhig einge&#x017F;chlafen. Und das<lb/>
möcht' ich auch. Ach, Lene. Der Tod i&#x017F;t es nich . . .<lb/>
Aber das Sterben . . . So, &#x017F;o. Ah, das hilft.&#x201D;</p><lb/>
        <p>Lene weinte &#x017F;till vor &#x017F;ich hin und weil &#x017F;ie nun<lb/>
wohl &#x017F;ah, daß der guten alten Frau letzte Stunde<lb/>
nahe &#x017F;ei, &#x017F;chickte &#x017F;ie zu Frau Dörr und ließ &#x017F;agen,<lb/>
&#x201E;es &#x017F;tehe &#x017F;chlecht und ob Frau Dörr nicht kommen<lb/>
wolle&#x201C;. Die ließ denn auch zurück &#x017F;agen, &#x201E;ja, &#x017F;ie<lb/>
werde kommen . . .&#x201C;, und um die &#x017F;ech&#x017F;te Stunde kam<lb/>
&#x017F;ie wirklich mit Lärm und Trara, weil Lei&#x017F;e&#x017F;ein,<lb/>
auch bei Kranken, nicht ihre Sache war. Sie &#x017F;tapp&#x017F;te<lb/>
nur &#x017F;o durch die Stube hin, daß alles &#x017F;chütterte<lb/>
und klirrte, was auf und neben dem Herde lag,<lb/>
und dabei verklagte &#x017F;ie Dörr, der immer grad' in<lb/>
der Stadt &#x017F;ei, wenn er mal zu Hau&#x017F;e &#x017F;ein &#x017F;olle,<lb/>
und immer zu Hau&#x017F;e wär', wenn &#x017F;ie ihn zum Kuckuck<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[210/0220] das Geſangbuch. Als ſie's aber brachte, ſagte die Alte: „Nein, nich das, das iſt das neue. Das alte will ich, das dicke mit den zwei Klappen.“ Und erſt als Lene mit dem dicken Geſangbuche wieder da war, fuhr die Alte fort: „Das hab' ich meiner Mutter ſelig auch holen müſſen und war noch ein halbes Kind damals und meine Mutter noch keine fuffzig und ſaß ihr auch hier und konnte keine Luft kriegen und die großen Angſtaugen kuckten mich immer ſo an. Als ich ihr aber das Porſt'ſche, das ſie bei der Einſegnung gehabt, unterſchob, da wurde ſie ganz ſtill und iſt ruhig eingeſchlafen. Und das möcht' ich auch. Ach, Lene. Der Tod iſt es nich . . . Aber das Sterben . . . So, ſo. Ah, das hilft.” Lene weinte ſtill vor ſich hin und weil ſie nun wohl ſah, daß der guten alten Frau letzte Stunde nahe ſei, ſchickte ſie zu Frau Dörr und ließ ſagen, „es ſtehe ſchlecht und ob Frau Dörr nicht kommen wolle“. Die ließ denn auch zurück ſagen, „ja, ſie werde kommen . . .“, und um die ſechſte Stunde kam ſie wirklich mit Lärm und Trara, weil Leiſeſein, auch bei Kranken, nicht ihre Sache war. Sie ſtappſte nur ſo durch die Stube hin, daß alles ſchütterte und klirrte, was auf und neben dem Herde lag, und dabei verklagte ſie Dörr, der immer grad' in der Stadt ſei, wenn er mal zu Hauſe ſein ſolle, und immer zu Hauſe wär', wenn ſie ihn zum Kuckuck

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_irrungen_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_irrungen_1888/220
Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. Leipzig, 1888, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_irrungen_1888/220>, abgerufen am 24.11.2024.