Fontane, Theodor: Meine Kinderjahre. Berlin, 1894.zu umarmen und zu küssen. Dies Küssen bezeichnete jedesmal den Beginn der zweiten Hälfte des Festes. Je weiter dann die Tafel gedieh, je freier wurde die Tafelberedsamkeit, die nun, vor nichts mehr erschreckend, alsbald zu den übermüthigsten, oft derb zufassenden Hänseleien oder, wo sich diese verboten, wenigstens zu persönlichen Schraubereien hinüberleitete. Genau das was man jetzt "uzen" nennt. Eines der auserlesensten Opfer dieser Lieblingsbeschäftigung der ganzen Tafelrunde, war, wie schon in frühern Kapiteln angedeutet, mein Papa. Längst wußte man, daß er, auf Conversation hin angesehen, drei Steckenpferde hatte: die Rang- und Ordensverhältnisse des preußischen Staats, die Einwohnerzahl aller Städte und Flecken unter Zugrundelegung der neuesten Zählung und die Namen und Herzogstitel der französischen Marschälle, einschließlich einer Unsumme napoleonischer Anekdoten, die letzteren meist in Originalfassung. Mitunter wurde diese Fassung auf Satzbildung und Grammatik hin beanstandet, worauf mein in die Enge getriebener Papa mit unverbrüchlicher Ruhe antwortete: "Mein französisches Gefühl lehrt mich, daß es so heißen muß, so und nicht anders", ein Ausspruch, der natürlich den Jubel nur steigerte. Ja, Napoleon und die Marschälle! Das Wissen meines Vaters, nach dieser Seite zu umarmen und zu küssen. Dies Küssen bezeichnete jedesmal den Beginn der zweiten Hälfte des Festes. Je weiter dann die Tafel gedieh, je freier wurde die Tafelberedsamkeit, die nun, vor nichts mehr erschreckend, alsbald zu den übermüthigsten, oft derb zufassenden Hänseleien oder, wo sich diese verboten, wenigstens zu persönlichen Schraubereien hinüberleitete. Genau das was man jetzt „uzen“ nennt. Eines der auserlesensten Opfer dieser Lieblingsbeschäftigung der ganzen Tafelrunde, war, wie schon in frühern Kapiteln angedeutet, mein Papa. Längst wußte man, daß er, auf Conversation hin angesehen, drei Steckenpferde hatte: die Rang- und Ordensverhältnisse des preußischen Staats, die Einwohnerzahl aller Städte und Flecken unter Zugrundelegung der neuesten Zählung und die Namen und Herzogstitel der französischen Marschälle, einschließlich einer Unsumme napoleonischer Anekdoten, die letzteren meist in Originalfassung. Mitunter wurde diese Fassung auf Satzbildung und Grammatik hin beanstandet, worauf mein in die Enge getriebener Papa mit unverbrüchlicher Ruhe antwortete: „Mein französisches Gefühl lehrt mich, daß es so heißen muß, so und nicht anders“, ein Ausspruch, der natürlich den Jubel nur steigerte. Ja, Napoleon und die Marschälle! Das Wissen meines Vaters, nach dieser Seite <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0164" n="156"/> zu umarmen und zu küssen. Dies Küssen bezeichnete jedesmal den Beginn der zweiten Hälfte des Festes. Je weiter dann die Tafel gedieh, je freier wurde die Tafelberedsamkeit, die nun, vor nichts mehr erschreckend, alsbald zu den übermüthigsten, oft derb zufassenden Hänseleien oder, wo sich diese verboten, wenigstens zu persönlichen Schraubereien hinüberleitete. Genau das was man jetzt „uzen“ nennt. Eines der auserlesensten Opfer dieser Lieblingsbeschäftigung der ganzen Tafelrunde, war, wie schon in frühern Kapiteln angedeutet, mein Papa. Längst wußte man, daß er, auf Conversation hin angesehen, drei Steckenpferde hatte: die Rang- und Ordensverhältnisse des preußischen Staats, die Einwohnerzahl aller Städte und Flecken unter Zugrundelegung der neuesten Zählung und die Namen und Herzogstitel der französischen Marschälle, einschließlich einer Unsumme napoleonischer Anekdoten, die letzteren meist in Originalfassung. Mitunter wurde diese Fassung auf Satzbildung und Grammatik hin beanstandet, worauf mein in die Enge getriebener Papa mit unverbrüchlicher Ruhe antwortete: „Mein französisches Gefühl lehrt mich, daß es so heißen muß, so und nicht anders“, ein Ausspruch, der natürlich den Jubel nur steigerte.</p> <p>Ja, Napoleon und die Marschälle!</p> <p>Das Wissen meines Vaters, nach dieser Seite </p> </div> </body> </text> </TEI> [156/0164]
zu umarmen und zu küssen. Dies Küssen bezeichnete jedesmal den Beginn der zweiten Hälfte des Festes. Je weiter dann die Tafel gedieh, je freier wurde die Tafelberedsamkeit, die nun, vor nichts mehr erschreckend, alsbald zu den übermüthigsten, oft derb zufassenden Hänseleien oder, wo sich diese verboten, wenigstens zu persönlichen Schraubereien hinüberleitete. Genau das was man jetzt „uzen“ nennt. Eines der auserlesensten Opfer dieser Lieblingsbeschäftigung der ganzen Tafelrunde, war, wie schon in frühern Kapiteln angedeutet, mein Papa. Längst wußte man, daß er, auf Conversation hin angesehen, drei Steckenpferde hatte: die Rang- und Ordensverhältnisse des preußischen Staats, die Einwohnerzahl aller Städte und Flecken unter Zugrundelegung der neuesten Zählung und die Namen und Herzogstitel der französischen Marschälle, einschließlich einer Unsumme napoleonischer Anekdoten, die letzteren meist in Originalfassung. Mitunter wurde diese Fassung auf Satzbildung und Grammatik hin beanstandet, worauf mein in die Enge getriebener Papa mit unverbrüchlicher Ruhe antwortete: „Mein französisches Gefühl lehrt mich, daß es so heißen muß, so und nicht anders“, ein Ausspruch, der natürlich den Jubel nur steigerte.
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