Fontane, Theodor: Von vor und nach der Reise. 2. Aufl. Berlin, 1894."... Die Gummischuhe ... Nicht wahr? Ich bitte Dich, komme mir nicht mit solchen Weichlichkeiten. Außerdem ist der Gummischuh, was Du nicht zu wissen scheinst, ein sanitätlich überwundener Standpunkt. Es gilt vom Fuße genau dasselbe, was vom ganzen Menschen gilt: er braucht Freiheit und Luft. Einpferchung ist die Brutstätte jeder Krankheit." Und so brach er denn auf und ging weit, erst den Asphalt und dann die Chaussee hinunter, bis er ins Freie kam, wo nichts mehr war, und nur noch der Sperling auf dem Telegraphendrahte saß und bei des einsamen Wanderers Anblick sagen zu wollen schien: "Ist es möglich?" In dieser Weise verlief der erste Regentag, und dem ersten folgte der zweite. Wohl unterblieben die Nachmittags-Partieen, aber in allem andern, insonderheit in der Abendverpflegung, wurde keine Veränderung vorgenommen, und die Milch, die, bei der herrschenden Kälte, nicht Zeit gehabt hatte ganz zu gerinnen, erschien nach wie vor auf dem Tisch. "Ungeronnene Milch ..." "Auch das ist ein überwundener Standpunkt" entgegnete Gottgetreu, während er die Satte heranzog und es sich schmecken ließ. Oder sich wenigstens das Ansehen davon gab. „… Die Gummischuhe … Nicht wahr? Ich bitte Dich, komme mir nicht mit solchen Weichlichkeiten. Außerdem ist der Gummischuh, was Du nicht zu wissen scheinst, ein sanitätlich überwundener Standpunkt. Es gilt vom Fuße genau dasselbe, was vom ganzen Menschen gilt: er braucht Freiheit und Luft. Einpferchung ist die Brutstätte jeder Krankheit.“ Und so brach er denn auf und ging weit, erst den Asphalt und dann die Chaussee hinunter, bis er ins Freie kam, wo nichts mehr war, und nur noch der Sperling auf dem Telegraphendrahte saß und bei des einsamen Wanderers Anblick sagen zu wollen schien: „Ist es möglich?“ In dieser Weise verlief der erste Regentag, und dem ersten folgte der zweite. Wohl unterblieben die Nachmittags-Partieen, aber in allem andern, insonderheit in der Abendverpflegung, wurde keine Veränderung vorgenommen, und die Milch, die, bei der herrschenden Kälte, nicht Zeit gehabt hatte ganz zu gerinnen, erschien nach wie vor auf dem Tisch. „Ungeronnene Milch …“ „Auch das ist ein überwundener Standpunkt“ entgegnete Gottgetreu, während er die Satte heranzog und es sich schmecken ließ. Oder sich wenigstens das Ansehen davon gab. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0032" n="30"/> <p>„… Die Gummischuhe … Nicht wahr? Ich bitte Dich, komme mir nicht mit solchen Weichlichkeiten. Außerdem ist der Gummischuh, was Du nicht zu wissen scheinst, ein sanitätlich überwundener Standpunkt. Es gilt vom Fuße genau dasselbe, was vom ganzen Menschen gilt: er braucht Freiheit und Luft. Einpferchung ist die Brutstätte jeder Krankheit.“</p><lb/> <p>Und so brach er denn auf und ging weit, erst den Asphalt und dann die Chaussee hinunter, bis er ins Freie kam, wo nichts mehr war, und nur noch der Sperling auf dem Telegraphendrahte saß und bei des einsamen Wanderers Anblick sagen zu wollen schien: „Ist es möglich?“</p><lb/> <p>In dieser Weise verlief der erste Regentag, und dem ersten folgte der zweite. Wohl unterblieben die Nachmittags-Partieen, aber in allem andern, insonderheit in der Abendverpflegung, wurde keine Veränderung vorgenommen, und die Milch, die, bei der herrschenden Kälte, nicht Zeit gehabt hatte ganz zu gerinnen, erschien nach wie vor auf dem Tisch.</p><lb/> <p>„Ungeronnene Milch …“</p><lb/> <p>„Auch <hi rendition="#g">das</hi> ist ein überwundener Standpunkt“ entgegnete Gottgetreu, während er die Satte heranzog und es sich schmecken ließ. Oder sich wenigstens das Ansehen davon gab.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [30/0032]
„… Die Gummischuhe … Nicht wahr? Ich bitte Dich, komme mir nicht mit solchen Weichlichkeiten. Außerdem ist der Gummischuh, was Du nicht zu wissen scheinst, ein sanitätlich überwundener Standpunkt. Es gilt vom Fuße genau dasselbe, was vom ganzen Menschen gilt: er braucht Freiheit und Luft. Einpferchung ist die Brutstätte jeder Krankheit.“
Und so brach er denn auf und ging weit, erst den Asphalt und dann die Chaussee hinunter, bis er ins Freie kam, wo nichts mehr war, und nur noch der Sperling auf dem Telegraphendrahte saß und bei des einsamen Wanderers Anblick sagen zu wollen schien: „Ist es möglich?“
In dieser Weise verlief der erste Regentag, und dem ersten folgte der zweite. Wohl unterblieben die Nachmittags-Partieen, aber in allem andern, insonderheit in der Abendverpflegung, wurde keine Veränderung vorgenommen, und die Milch, die, bei der herrschenden Kälte, nicht Zeit gehabt hatte ganz zu gerinnen, erschien nach wie vor auf dem Tisch.
„Ungeronnene Milch …“
„Auch das ist ein überwundener Standpunkt“ entgegnete Gottgetreu, während er die Satte heranzog und es sich schmecken ließ. Oder sich wenigstens das Ansehen davon gab.
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(2014-01-22T15:28:28Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2014-01-22T15:28:28Z)
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2014-01-22T15:28:28Z)
Weitere Informationen:Theodor Fontane: Von vor und nach der Reise. Plaudereien und kleine Geschichten. Hrsg. von Walter Hettche und Gabriele Radecke. Berlin 2007 [= Große Brandenburger Ausgabe, Das erzählerische Werk, Bd. 19]: Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin). Anmerkungen zur Transkription:
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