Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. 1. Aufl. Berlin, 1898.An meiner Deutlichkeit richtete sie sich aber ordentlich auf und nickte und schmunzelte dazu. Was ich zu jener Zeit gesagt, wird wohl auch heute noch einigermaßen Geltung haben und so mag der Versuch gestattet sein, es hier aus dem Gedächtnis noch einmal auszusprechen. Alles was ich damals aus mittleren Bürgerkreisen in Leipzig kennen gelernt hatte, schien mir nicht nur an Umgangsformen und Politesse, sondern auch in jener gefälligen und herzgewinnenden Lebhaftigkeit, die die Person der Sache zu Liebe zu vergessen weiß, unsrer entsprechenden Berliner Gesellschaftsschicht erheblich überlegen, wogegen die Berliner Bürgerkreise, so philiströs beengt sie zu jener Zeit waren, doch in dieser ihrer Philistrosität immer noch hinter dem, was die Leipziger auf diesem Gebiete leisteten, zurückblieben. Dem allen stimmte Tante Pinchen mehr oder weniger befriedigt zu und wenn wir uns erst im Prinzip geeinigt hatten, gingen wir - das heißt ich - sofort tapfer weiter vor, um die befreundeten Einzelexemplare nach Herzenslust durchzuhecheln. All das ging so durch Wochen. Als sich aber Ende März herausstellte, daß es mit meinem Zustande nicht besser werden wollte, machte mir meine gütige Pflegerin eines Tages den Vorschlag, mein wie eine Typhusbrutstätte wirkendes Zimmer in der An meiner Deutlichkeit richtete sie sich aber ordentlich auf und nickte und schmunzelte dazu. Was ich zu jener Zeit gesagt, wird wohl auch heute noch einigermaßen Geltung haben und so mag der Versuch gestattet sein, es hier aus dem Gedächtnis noch einmal auszusprechen. Alles was ich damals aus mittleren Bürgerkreisen in Leipzig kennen gelernt hatte, schien mir nicht nur an Umgangsformen und Politesse, sondern auch in jener gefälligen und herzgewinnenden Lebhaftigkeit, die die Person der Sache zu Liebe zu vergessen weiß, unsrer entsprechenden Berliner Gesellschaftsschicht erheblich überlegen, wogegen die Berliner Bürgerkreise, so philiströs beengt sie zu jener Zeit waren, doch in dieser ihrer Philistrosität immer noch hinter dem, was die Leipziger auf diesem Gebiete leisteten, zurückblieben. Dem allen stimmte Tante Pinchen mehr oder weniger befriedigt zu und wenn wir uns erst im Prinzip geeinigt hatten, gingen wir – das heißt ich – sofort tapfer weiter vor, um die befreundeten Einzelexemplare nach Herzenslust durchzuhecheln. All das ging so durch Wochen. Als sich aber Ende März herausstellte, daß es mit meinem Zustande nicht besser werden wollte, machte mir meine gütige Pflegerin eines Tages den Vorschlag, mein wie eine Typhusbrutstätte wirkendes Zimmer in der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0176" n="167"/> An meiner Deutlichkeit richtete sie sich aber ordentlich auf und nickte und schmunzelte dazu. Was ich zu jener Zeit gesagt, wird wohl auch heute noch einigermaßen Geltung haben und so mag der Versuch gestattet sein, es hier aus dem Gedächtnis noch einmal auszusprechen. Alles was ich damals aus mittleren Bürgerkreisen in Leipzig kennen gelernt hatte, schien mir nicht nur an Umgangsformen und Politesse, sondern auch in jener gefälligen und herzgewinnenden Lebhaftigkeit, die die Person der Sache zu Liebe zu vergessen weiß, unsrer entsprechenden Berliner Gesellschaftsschicht erheblich überlegen, wogegen die Berliner Bürgerkreise, so philiströs beengt sie zu jener Zeit waren, doch in dieser ihrer Philistrosität immer noch hinter dem, was die Leipziger auf <hi rendition="#g">diesem</hi> Gebiete leisteten, zurückblieben. Dem allen stimmte Tante Pinchen mehr oder weniger befriedigt zu und wenn wir uns erst im Prinzip geeinigt hatten, gingen wir – das heißt ich – sofort tapfer weiter vor, um die befreundeten Einzelexemplare nach Herzenslust durchzuhecheln.</p><lb/> <p>All das ging so durch Wochen. Als sich aber Ende März herausstellte, daß es mit meinem Zustande nicht besser werden wollte, machte mir meine gütige Pflegerin eines Tages den Vorschlag, mein wie eine Typhusbrutstätte wirkendes Zimmer in der<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [167/0176]
An meiner Deutlichkeit richtete sie sich aber ordentlich auf und nickte und schmunzelte dazu. Was ich zu jener Zeit gesagt, wird wohl auch heute noch einigermaßen Geltung haben und so mag der Versuch gestattet sein, es hier aus dem Gedächtnis noch einmal auszusprechen. Alles was ich damals aus mittleren Bürgerkreisen in Leipzig kennen gelernt hatte, schien mir nicht nur an Umgangsformen und Politesse, sondern auch in jener gefälligen und herzgewinnenden Lebhaftigkeit, die die Person der Sache zu Liebe zu vergessen weiß, unsrer entsprechenden Berliner Gesellschaftsschicht erheblich überlegen, wogegen die Berliner Bürgerkreise, so philiströs beengt sie zu jener Zeit waren, doch in dieser ihrer Philistrosität immer noch hinter dem, was die Leipziger auf diesem Gebiete leisteten, zurückblieben. Dem allen stimmte Tante Pinchen mehr oder weniger befriedigt zu und wenn wir uns erst im Prinzip geeinigt hatten, gingen wir – das heißt ich – sofort tapfer weiter vor, um die befreundeten Einzelexemplare nach Herzenslust durchzuhecheln.
All das ging so durch Wochen. Als sich aber Ende März herausstellte, daß es mit meinem Zustande nicht besser werden wollte, machte mir meine gütige Pflegerin eines Tages den Vorschlag, mein wie eine Typhusbrutstätte wirkendes Zimmer in der
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(2018-07-25T10:02:20Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Rahel Gajaneh Hartz: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2018-07-25T10:02:20Z)
Weitere Informationen:Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. Hrsg. von der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Universität Göttingen. Bandbearbeiter: Wolfgang Rasch. Berlin 2014 [= Große Brandenburger Ausgabe, Das autobiographische Werk, Bd. 3]: Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin). Verfahren der Texterfassung: manuell (einfach erfasst).
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