Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. 1. Aufl. Berlin, 1898.Wilhelms I. abzusehen hat, der wohl nicht dafür zu haben gewesen wäre - so hätte sich gegen ein solches Zusammenziehen der "Stände," die zu jener Zeit, wenn auch angekränkelt und eingeengt, doch immerhin noch bei Leben waren, nicht viel sagen lassen. Es gab noch kein preußisches Volk. Unsere ostelbischen Provinzen, aus denen im wesentlichen das ganze Land bestand, waren Ackerbauprovinzen und was in ihnen, neben Adel, Heer und Beamtenschaft, noch so umherkroch, etwa 4 Millionen Seelen ohne Seele, das zählte nicht mit. Aber von diesem absolutistisch patriarchalischen Zustand der Dinge zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, war beim Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. nichts mehr vorhanden. Alles hatte sich von Grund aus geändert. Aus den 4 Millionen waren 24 Millionen geworden, und diese 24 Millionen waren keine misera plebs mehr, sondern freie Menschen - wenigstens innerlich - an denen die die Welt umgestaltenden Ideen der französischen Revolution nicht spurlos vorübergegangen waren. Der ungeheure Fehler des so klugen und auf seine Art so aufrichtig freisinnigen Königs bestand darin, daß er diesen Wandel der Zeiten nicht begriff und einer vorgefaßten Meinung zuliebe, nur sein Ideal, aber nicht die Ideale seines Volkes verwirklichen wollte. Friedrich Wilhelm IV. handelte, wie wenn Wilhelms I. abzusehen hat, der wohl nicht dafür zu haben gewesen wäre – so hätte sich gegen ein solches Zusammenziehen der „Stände,“ die zu jener Zeit, wenn auch angekränkelt und eingeengt, doch immerhin noch bei Leben waren, nicht viel sagen lassen. Es gab noch kein preußisches Volk. Unsere ostelbischen Provinzen, aus denen im wesentlichen das ganze Land bestand, waren Ackerbauprovinzen und was in ihnen, neben Adel, Heer und Beamtenschaft, noch so umherkroch, etwa 4 Millionen Seelen ohne Seele, das zählte nicht mit. Aber von diesem absolutistisch patriarchalischen Zustand der Dinge zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, war beim Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. nichts mehr vorhanden. Alles hatte sich von Grund aus geändert. Aus den 4 Millionen waren 24 Millionen geworden, und diese 24 Millionen waren keine misera plebs mehr, sondern freie Menschen – wenigstens innerlich – an denen die die Welt umgestaltenden Ideen der französischen Revolution nicht spurlos vorübergegangen waren. Der ungeheure Fehler des so klugen und auf seine Art so aufrichtig freisinnigen Königs bestand darin, daß er diesen Wandel der Zeiten nicht begriff und einer vorgefaßten Meinung zuliebe, nur sein Ideal, aber nicht die Ideale seines Volkes verwirklichen wollte. Friedrich Wilhelm IV. handelte, wie wenn <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0587" n="578"/> Wilhelms <hi rendition="#aq">I.</hi> abzusehen hat, der wohl nicht dafür zu haben gewesen wäre – so hätte sich gegen ein solches Zusammenziehen der „Stände,“ die zu jener Zeit, wenn auch angekränkelt und eingeengt, doch immerhin noch bei Leben waren, nicht viel sagen lassen. Es gab noch kein preußisches Volk. Unsere ostelbischen Provinzen, aus denen im wesentlichen das ganze Land bestand, waren Ackerbauprovinzen und was in ihnen, neben Adel, Heer und Beamtenschaft, noch so umherkroch, etwa 4 Millionen Seelen ohne Seele, das zählte nicht mit. Aber von diesem absolutistisch <choice><sic>patriachalischen</sic><corr>patriarchalischen</corr></choice> Zustand der Dinge zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, war beim Regierungsantritt Friedrich Wilhelms <hi rendition="#aq">IV.</hi> nichts mehr vorhanden.</p><lb/> <p>Alles hatte sich von Grund aus geändert. Aus den 4 Millionen waren 24 Millionen geworden, und diese 24 Millionen waren keine <hi rendition="#aq">misera plebs</hi> mehr, sondern freie Menschen – wenigstens innerlich – an denen die die Welt umgestaltenden Ideen der französischen Revolution nicht spurlos vorübergegangen waren. Der ungeheure Fehler des so klugen und auf seine Art so aufrichtig freisinnigen Königs bestand darin, daß er diesen Wandel der Zeiten nicht begriff und einer vorgefaßten Meinung zuliebe, nur <hi rendition="#g">sein</hi> Ideal, aber nicht die Ideale seines Volkes verwirklichen wollte. Friedrich Wilhelm <hi rendition="#aq">IV.</hi> handelte, wie wenn<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [578/0587]
Wilhelms I. abzusehen hat, der wohl nicht dafür zu haben gewesen wäre – so hätte sich gegen ein solches Zusammenziehen der „Stände,“ die zu jener Zeit, wenn auch angekränkelt und eingeengt, doch immerhin noch bei Leben waren, nicht viel sagen lassen. Es gab noch kein preußisches Volk. Unsere ostelbischen Provinzen, aus denen im wesentlichen das ganze Land bestand, waren Ackerbauprovinzen und was in ihnen, neben Adel, Heer und Beamtenschaft, noch so umherkroch, etwa 4 Millionen Seelen ohne Seele, das zählte nicht mit. Aber von diesem absolutistisch patriarchalischen Zustand der Dinge zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, war beim Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. nichts mehr vorhanden.
Alles hatte sich von Grund aus geändert. Aus den 4 Millionen waren 24 Millionen geworden, und diese 24 Millionen waren keine misera plebs mehr, sondern freie Menschen – wenigstens innerlich – an denen die die Welt umgestaltenden Ideen der französischen Revolution nicht spurlos vorübergegangen waren. Der ungeheure Fehler des so klugen und auf seine Art so aufrichtig freisinnigen Königs bestand darin, daß er diesen Wandel der Zeiten nicht begriff und einer vorgefaßten Meinung zuliebe, nur sein Ideal, aber nicht die Ideale seines Volkes verwirklichen wollte. Friedrich Wilhelm IV. handelte, wie wenn
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(2018-07-25T10:02:20Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Rahel Gajaneh Hartz: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2018-07-25T10:02:20Z)
Weitere Informationen:Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. Hrsg. von der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Universität Göttingen. Bandbearbeiter: Wolfgang Rasch. Berlin 2014 [= Große Brandenburger Ausgabe, Das autobiographische Werk, Bd. 3]: Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin). Verfahren der Texterfassung: manuell (einfach erfasst).
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