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Forkel, Johann Nikolaus: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig, 1802.

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Zwecke irgend eine Art von Anleitung bedürfe. Als eine solche Anleitung dienten ihm die damahls neu herausgekommenen Violinconcerte von Vivaldi. Er hörte sie so häufig als vortreffliche Musikstücke rühmen, daß er dadurch auf den glücklichen Einfall kam, sie sämmtlich für sein Clavier einzurichten. Er studirte die Führung der Gedanken, das Verhältniß derselben unter einander, die Abwechselungen der Modulation und mancherley andere Dinge mehr. Die Umänderung der für die Violine eingerichteten, dem Clavier aber nicht angemessenen Gedanken und Passagen, lehrte ihn auch musikalisch denken, so daß er nach vollbrachter Arbeit seine Gedanken nicht mehr von seinen Fingern zu erwarten brauchte, sondern sie schon aus eigener Fantasie nehmen konnte. So vorbereitet, bedurfte es nun nur Fleiß und ununterbrochene Uebung, um immer weiter, und endlich auf einen Punkt zu kommen, auf welchem er sich nicht nur ein Kunst-Ideal erschaffen, sondern auch hoffen konnte, es mit der Zeit zu erreichen. An dieser Uebung ließ er es nie fehlen. Er arbeitete so anhaltend, und so emsig, daß er sogar häufig die Nächte zu Hülfe nahm. Was er am Tage geschrieben hatte, lernte er in der darauf folgenden Nacht spielen. Bei allem Fleiß, den er auf seine eigene Versuche wendete, unterließ er um diese Zeit doch nie, auch die Werke des Frescobaldi, Frobergers, Kerls, Pachelbels, Fischers, Struncks, Buxtehudens, Reinkens, Bruhns, Böhms und einiger alten französischen Organisten, die alle nach damahliger Art starke Harmonisten und Fugisten waren, mit der größten Aufmerksamkeit zu studiren.

Nicht nur der Charakter aller dieser Muster, welche meistens für die Kirche bestimmt waren, sondern hauptsächlich sein eigenes ernsthaftes Temperament führte ihn vorzüglich zur Bearbeitung des ernsthaften und hohen Styls in der Musik. Bey dieser Art von Musik läßt sich mit einer mäßigen Anzahl von Kunstausdrücken oder Tonverbindungen nicht viel ausrichten. Er wurde bald gewahr, daß der damahls vorhandene musikalische Sprachschatz erst vermehrt werden müsse, ehe das ihm vorschwebende Kunst-Ideal erreicht werden könne. Er sah die Musik völlig als eine Sprache, und den Componisten als einen Dichter an, dem es, er dichte in welcher Sprache er wolle, nie an hinlänglichen Ausdrücken zur Darstellung seiner Gefühle fehlen dürfe. Da nun wirklich in seiner Jugend die Kunstausdrücke wenigstens für seinen musikalischen Dichtergeist noch nicht in

Zwecke irgend eine Art von Anleitung bedürfe. Als eine solche Anleitung dienten ihm die damahls neu herausgekommenen Violinconcerte von Vivaldi. Er hörte sie so häufig als vortreffliche Musikstücke rühmen, daß er dadurch auf den glücklichen Einfall kam, sie sämmtlich für sein Clavier einzurichten. Er studirte die Führung der Gedanken, das Verhältniß derselben unter einander, die Abwechselungen der Modulation und mancherley andere Dinge mehr. Die Umänderung der für die Violine eingerichteten, dem Clavier aber nicht angemessenen Gedanken und Passagen, lehrte ihn auch musikalisch denken, so daß er nach vollbrachter Arbeit seine Gedanken nicht mehr von seinen Fingern zu erwarten brauchte, sondern sie schon aus eigener Fantasie nehmen konnte. So vorbereitet, bedurfte es nun nur Fleiß und ununterbrochene Uebung, um immer weiter, und endlich auf einen Punkt zu kommen, auf welchem er sich nicht nur ein Kunst-Ideal erschaffen, sondern auch hoffen konnte, es mit der Zeit zu erreichen. An dieser Uebung ließ er es nie fehlen. Er arbeitete so anhaltend, und so emsig, daß er sogar häufig die Nächte zu Hülfe nahm. Was er am Tage geschrieben hatte, lernte er in der darauf folgenden Nacht spielen. Bei allem Fleiß, den er auf seine eigene Versuche wendete, unterließ er um diese Zeit doch nie, auch die Werke des Frescobaldi, Frobergers, Kerls, Pachelbels, Fischers, Struncks, Buxtehudens, Reinkens, Bruhns, Böhms und einiger alten französischen Organisten, die alle nach damahliger Art starke Harmonisten und Fugisten waren, mit der größten Aufmerksamkeit zu studiren.

Nicht nur der Charakter aller dieser Muster, welche meistens für die Kirche bestimmt waren, sondern hauptsächlich sein eigenes ernsthaftes Temperament führte ihn vorzüglich zur Bearbeitung des ernsthaften und hohen Styls in der Musik. Bey dieser Art von Musik läßt sich mit einer mäßigen Anzahl von Kunstausdrücken oder Tonverbindungen nicht viel ausrichten. Er wurde bald gewahr, daß der damahls vorhandene musikalische Sprachschatz erst vermehrt werden müsse, ehe das ihm vorschwebende Kunst-Ideal erreicht werden könne. Er sah die Musik völlig als eine Sprache, und den Componisten als einen Dichter an, dem es, er dichte in welcher Sprache er wolle, nie an hinlänglichen Ausdrücken zur Darstellung seiner Gefühle fehlen dürfe. Da nun wirklich in seiner Jugend die Kunstausdrücke wenigstens für seinen musikalischen Dichtergeist noch nicht in

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[24/0034] Zwecke irgend eine Art von Anleitung bedürfe. Als eine solche Anleitung dienten ihm die damahls neu herausgekommenen Violinconcerte von Vivaldi. Er hörte sie so häufig als vortreffliche Musikstücke rühmen, daß er dadurch auf den glücklichen Einfall kam, sie sämmtlich für sein Clavier einzurichten. Er studirte die Führung der Gedanken, das Verhältniß derselben unter einander, die Abwechselungen der Modulation und mancherley andere Dinge mehr. Die Umänderung der für die Violine eingerichteten, dem Clavier aber nicht angemessenen Gedanken und Passagen, lehrte ihn auch musikalisch denken, so daß er nach vollbrachter Arbeit seine Gedanken nicht mehr von seinen Fingern zu erwarten brauchte, sondern sie schon aus eigener Fantasie nehmen konnte. So vorbereitet, bedurfte es nun nur Fleiß und ununterbrochene Uebung, um immer weiter, und endlich auf einen Punkt zu kommen, auf welchem er sich nicht nur ein Kunst-Ideal erschaffen, sondern auch hoffen konnte, es mit der Zeit zu erreichen. An dieser Uebung ließ er es nie fehlen. Er arbeitete so anhaltend, und so emsig, daß er sogar häufig die Nächte zu Hülfe nahm. Was er am Tage geschrieben hatte, lernte er in der darauf folgenden Nacht spielen. Bei allem Fleiß, den er auf seine eigene Versuche wendete, unterließ er um diese Zeit doch nie, auch die Werke des Frescobaldi, Frobergers, Kerls, Pachelbels, Fischers, Struncks, Buxtehudens, Reinkens, Bruhns, Böhms und einiger alten französischen Organisten, die alle nach damahliger Art starke Harmonisten und Fugisten waren, mit der größten Aufmerksamkeit zu studiren. Nicht nur der Charakter aller dieser Muster, welche meistens für die Kirche bestimmt waren, sondern hauptsächlich sein eigenes ernsthaftes Temperament führte ihn vorzüglich zur Bearbeitung des ernsthaften und hohen Styls in der Musik. Bey dieser Art von Musik läßt sich mit einer mäßigen Anzahl von Kunstausdrücken oder Tonverbindungen nicht viel ausrichten. Er wurde bald gewahr, daß der damahls vorhandene musikalische Sprachschatz erst vermehrt werden müsse, ehe das ihm vorschwebende Kunst-Ideal erreicht werden könne. Er sah die Musik völlig als eine Sprache, und den Componisten als einen Dichter an, dem es, er dichte in welcher Sprache er wolle, nie an hinlänglichen Ausdrücken zur Darstellung seiner Gefühle fehlen dürfe. Da nun wirklich in seiner Jugend die Kunstausdrücke wenigstens für seinen musikalischen Dichtergeist noch nicht in

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Zitationshilfe: Forkel, Johann Nikolaus: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig, 1802, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/forkel_bach_1802/34>, abgerufen am 21.11.2024.