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Forster, Georg: Johann Reinhold Forster's [...] Reise um die Welt. Bd. 2. Berlin, 1780.

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Forster's Reise um die Welt
1774
August.
Allein es fanden sich weder Leute, noch Netze, noch Fische; sondern blos
ein Paar Wurfspieße darinn, die höchstens statt Harpunen konnten gebraucht
worden seyn. Als unsre indianischen Begleiter sahen, daß wir weiter gegen die
Landspitze zu giengen, äußerten sie ungemein viel Besorgniß, und baten uns
nicht nur, sehr dringend, diese Gegend der Insel undurchsucht zu lassen; sondern
drohten auch bald, daß man uns im Weigerungsfall todtschlagen und auffressen
würde. Wir kehrten also um. Es war jetzt das dritte Mal, daß sie selbst,
durch die deutlichsten Zeichen, sich für Menschenfresser ausgaben; mithin muß
diese Barbarey wohl in der That bey ihnen im Schwange seyn. Gemeiniglich pflegt
man dieselbe dem äußersten Mangel an Lebensmitteln Schuld zu geben; allein, was
für einer Ursach will man sie hier beymessen, wo das fruchtbare Land seinen
Einwohnern die nahrhaftesten Pflanzen und Wurzeln im Ueberfluß, und ne-
benher auch noch zahmes Vieh liefert? Wohl ungleich wahrscheinlicher und rich-
tiger läßt sich diese wiedernatürliche Gewohnheit aus der Begierde nach Rache
herleiten. Selbsterhaltung ist ohnläugbar das erste Gesetz der Natur; blos um
diese zu befördern, pflanzte sie unsern Herzen Leidenschaften ein. In der bürger-
lichen Gesellschaft sind wir, vermittelst gewisser Gesetze und Verordnungen, freywillig
dahin überein gekommen, daß nur einigen wenigen Personen die Sorge überlassen
seyn soll, das Unrecht zu rügen, was jedem Mitgliede insbesondere wiederfährt:
Bey den Wilden hingegen verschaft sich ein jeder selbst Recht, und sucht daher
bey der geringsten Beleidigung oder Unterdrückung, seinen Durst nach Rache
zu befriedigen. Diese feindselige Gesinnung ist uns aber eben so gut von
Natur eigen, als das sanftere Gefühl der allgemeinen Menschenliebe, und,
so entgegengesetzt diese beyde Leidenschaften auch zu seyn scheinen; so sind sie
doch im Grunde zween der vornehmsten Triebräder, durch deren gegenseitige Ein-
würkung die ganze Maschine der menschlichen Gesellschaft in beständigem Gange
erhalten, und für Zerrüttung bewahret wird. Ein Mann, der gar keine Men-
schenliebe besäße, verdiente, als ein wahres Ungeheuer, mit Recht den Abscheu
des ganzen menschlichen Geschlechts, wer aber im Gegentheil auch durch
nichts aufzubringen wäre, der würde in seiner Art ebenfalls ein verächtlicher
Tropf seyn, weil ihn jeder feige Schurke ungeahndet kränken und beleidigen konnte.
Ein Volk, oder eine Familie (denn Wilde leben doch selten in größeren Ge-

Forſter’s Reiſe um die Welt
1774
Auguſt.
Allein es fanden ſich weder Leute, noch Netze, noch Fiſche; ſondern blos
ein Paar Wurfſpieße darinn, die hoͤchſtens ſtatt Harpunen konnten gebraucht
worden ſeyn. Als unſre indianiſchen Begleiter ſahen, daß wir weiter gegen die
Landſpitze zu giengen, aͤußerten ſie ungemein viel Beſorgniß, und baten uns
nicht nur, ſehr dringend, dieſe Gegend der Inſel undurchſucht zu laſſen; ſondern
drohten auch bald, daß man uns im Weigerungsfall todtſchlagen und auffreſſen
wuͤrde. Wir kehrten alſo um. Es war jetzt das dritte Mal, daß ſie ſelbſt,
durch die deutlichſten Zeichen, ſich fuͤr Menſchenfreſſer ausgaben; mithin muß
dieſe Barbarey wohl in der That bey ihnen im Schwange ſeyn. Gemeiniglich pflegt
man dieſelbe dem aͤußerſten Mangel an Lebensmitteln Schuld zu geben; allein, was
fuͤr einer Urſach will man ſie hier beymeſſen, wo das fruchtbare Land ſeinen
Einwohnern die nahrhafteſten Pflanzen und Wurzeln im Ueberfluß, und ne-
benher auch noch zahmes Vieh liefert? Wohl ungleich wahrſcheinlicher und rich-
tiger laͤßt ſich dieſe wiedernatuͤrliche Gewohnheit aus der Begierde nach Rache
herleiten. Selbſterhaltung iſt ohnlaͤugbar das erſte Geſetz der Natur; blos um
dieſe zu befoͤrdern, pflanzte ſie unſern Herzen Leidenſchaften ein. In der buͤrger-
lichen Geſellſchaft ſind wir, vermittelſt gewiſſer Geſetze und Verordnungen, freywillig
dahin uͤberein gekommen, daß nur einigen wenigen Perſonen die Sorge uͤberlaſſen
ſeyn ſoll, das Unrecht zu ruͤgen, was jedem Mitgliede insbeſondere wiederfaͤhrt:
Bey den Wilden hingegen verſchaft ſich ein jeder ſelbſt Recht, und ſucht daher
bey der geringſten Beleidigung oder Unterdruͤckung, ſeinen Durſt nach Rache
zu befriedigen. Dieſe feindſelige Geſinnung iſt uns aber eben ſo gut von
Natur eigen, als das ſanftere Gefuͤhl der allgemeinen Menſchenliebe, und,
ſo entgegengeſetzt dieſe beyde Leidenſchaften auch zu ſeyn ſcheinen; ſo ſind ſie
doch im Grunde zween der vornehmſten Triebraͤder, durch deren gegenſeitige Ein-
wuͤrkung die ganze Maſchine der menſchlichen Geſellſchaft in beſtaͤndigem Gange
erhalten, und fuͤr Zerruͤttung bewahret wird. Ein Mann, der gar keine Men-
ſchenliebe beſaͤße, verdiente, als ein wahres Ungeheuer, mit Recht den Abſcheu
des ganzen menſchlichen Geſchlechts, wer aber im Gegentheil auch durch
nichts aufzubringen waͤre, der wuͤrde in ſeiner Art ebenfalls ein veraͤchtlicher
Tropf ſeyn, weil ihn jeder feige Schurke ungeahndet kraͤnken und beleidigen konnte.
Ein Volk, oder eine Familie (denn Wilde leben doch ſelten in groͤßeren Ge-

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[250/0264] Forſter’s Reiſe um die Welt Allein es fanden ſich weder Leute, noch Netze, noch Fiſche; ſondern blos ein Paar Wurfſpieße darinn, die hoͤchſtens ſtatt Harpunen konnten gebraucht worden ſeyn. Als unſre indianiſchen Begleiter ſahen, daß wir weiter gegen die Landſpitze zu giengen, aͤußerten ſie ungemein viel Beſorgniß, und baten uns nicht nur, ſehr dringend, dieſe Gegend der Inſel undurchſucht zu laſſen; ſondern drohten auch bald, daß man uns im Weigerungsfall todtſchlagen und auffreſſen wuͤrde. Wir kehrten alſo um. Es war jetzt das dritte Mal, daß ſie ſelbſt, durch die deutlichſten Zeichen, ſich fuͤr Menſchenfreſſer ausgaben; mithin muß dieſe Barbarey wohl in der That bey ihnen im Schwange ſeyn. Gemeiniglich pflegt man dieſelbe dem aͤußerſten Mangel an Lebensmitteln Schuld zu geben; allein, was fuͤr einer Urſach will man ſie hier beymeſſen, wo das fruchtbare Land ſeinen Einwohnern die nahrhafteſten Pflanzen und Wurzeln im Ueberfluß, und ne- benher auch noch zahmes Vieh liefert? Wohl ungleich wahrſcheinlicher und rich- tiger laͤßt ſich dieſe wiedernatuͤrliche Gewohnheit aus der Begierde nach Rache herleiten. Selbſterhaltung iſt ohnlaͤugbar das erſte Geſetz der Natur; blos um dieſe zu befoͤrdern, pflanzte ſie unſern Herzen Leidenſchaften ein. In der buͤrger- lichen Geſellſchaft ſind wir, vermittelſt gewiſſer Geſetze und Verordnungen, freywillig dahin uͤberein gekommen, daß nur einigen wenigen Perſonen die Sorge uͤberlaſſen ſeyn ſoll, das Unrecht zu ruͤgen, was jedem Mitgliede insbeſondere wiederfaͤhrt: Bey den Wilden hingegen verſchaft ſich ein jeder ſelbſt Recht, und ſucht daher bey der geringſten Beleidigung oder Unterdruͤckung, ſeinen Durſt nach Rache zu befriedigen. Dieſe feindſelige Geſinnung iſt uns aber eben ſo gut von Natur eigen, als das ſanftere Gefuͤhl der allgemeinen Menſchenliebe, und, ſo entgegengeſetzt dieſe beyde Leidenſchaften auch zu ſeyn ſcheinen; ſo ſind ſie doch im Grunde zween der vornehmſten Triebraͤder, durch deren gegenſeitige Ein- wuͤrkung die ganze Maſchine der menſchlichen Geſellſchaft in beſtaͤndigem Gange erhalten, und fuͤr Zerruͤttung bewahret wird. Ein Mann, der gar keine Men- ſchenliebe beſaͤße, verdiente, als ein wahres Ungeheuer, mit Recht den Abſcheu des ganzen menſchlichen Geſchlechts, wer aber im Gegentheil auch durch nichts aufzubringen waͤre, der wuͤrde in ſeiner Art ebenfalls ein veraͤchtlicher Tropf ſeyn, weil ihn jeder feige Schurke ungeahndet kraͤnken und beleidigen konnte. Ein Volk, oder eine Familie (denn Wilde leben doch ſelten in groͤßeren Ge- 1774 Auguſt.

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Zitationshilfe: Forster, Georg: Johann Reinhold Forster's [...] Reise um die Welt. Bd. 2. Berlin, 1780, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/forster_reise02_1780/264>, abgerufen am 22.11.2024.