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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871.

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Die Verlegenheit wurde indessen bestens gelöst,
da "Muhme Justine" sich freiwillig als Duenna und
Reiseschutz erbot. Denn wenn auch hundert Meilen
zurückzulegen gewesen wären, statt zwölf, und zwanzig
Nachtquartiere zu halten, statt zwei, keinem Menschen
auf der Welt würde die Mutter ihr Kind so zuver¬
sichtlich übergeben haben, als unserer Muhme Justine.

Muhme Justine, Du Treueste der Treuen, so
trittst Du denn auf dieser Reise zum erstenmale in
den Rahmen meiner Geschichte, da Du doch schon
beim ersten Schritt der Lebensreise gebührentlich hät¬
test Erwähnung finden müssen. Du hast mich auf
Deinen Händen an das Licht getragen, hast mich ge¬
schaukelt, als die Mutterarme noch zu schwach waren
für das "Hünenkind", und niemals ist ein Pflegling
mit zärtlicheren Blicken gehütet worden, als die letzte
Reckenburgerin von ihrer Muhme Justine.

Sie war, als Wittwe eines Wachtmeisters, in
den elterlichen Dienst getreten und hatte ihn, lediglich
mit Aushülfe des Soldatenburschen, verwaltet, auch da
die Pflege der Neugeborenen sie zum Range einer
Muhme erhob. Alle Pflichten und Künste dieser ehr¬
würdigen Zunft hatte sie geübt und keine ihrer be¬
freienden Befugnisse beansprucht. Erst als ihr "Din¬

Die Verlegenheit wurde indeſſen beſtens gelöſt,
da „Muhme Juſtine“ ſich freiwillig als Duenna und
Reiſeſchutz erbot. Denn wenn auch hundert Meilen
zurückzulegen geweſen wären, ſtatt zwölf, und zwanzig
Nachtquartiere zu halten, ſtatt zwei, keinem Menſchen
auf der Welt würde die Mutter ihr Kind ſo zuver¬
ſichtlich übergeben haben, als unſerer Muhme Juſtine.

Muhme Juſtine, Du Treueſte der Treuen, ſo
trittſt Du denn auf dieſer Reiſe zum erſtenmale in
den Rahmen meiner Geſchichte, da Du doch ſchon
beim erſten Schritt der Lebensreiſe gebührentlich hät¬
teſt Erwähnung finden müſſen. Du haſt mich auf
Deinen Händen an das Licht getragen, haſt mich ge¬
ſchaukelt, als die Mutterarme noch zu ſchwach waren
für das „Hünenkind“, und niemals iſt ein Pflegling
mit zärtlicheren Blicken gehütet worden, als die letzte
Reckenburgerin von ihrer Muhme Juſtine.

Sie war, als Wittwe eines Wachtmeiſters, in
den elterlichen Dienſt getreten und hatte ihn, lediglich
mit Aushülfe des Soldatenburſchen, verwaltet, auch da
die Pflege der Neugeborenen ſie zum Range einer
Muhme erhob. Alle Pflichten und Künſte dieſer ehr¬
würdigen Zunft hatte ſie geübt und keine ihrer be¬
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[148/0155] Die Verlegenheit wurde indeſſen beſtens gelöſt, da „Muhme Juſtine“ ſich freiwillig als Duenna und Reiſeſchutz erbot. Denn wenn auch hundert Meilen zurückzulegen geweſen wären, ſtatt zwölf, und zwanzig Nachtquartiere zu halten, ſtatt zwei, keinem Menſchen auf der Welt würde die Mutter ihr Kind ſo zuver¬ ſichtlich übergeben haben, als unſerer Muhme Juſtine. Muhme Juſtine, Du Treueſte der Treuen, ſo trittſt Du denn auf dieſer Reiſe zum erſtenmale in den Rahmen meiner Geſchichte, da Du doch ſchon beim erſten Schritt der Lebensreiſe gebührentlich hät¬ teſt Erwähnung finden müſſen. Du haſt mich auf Deinen Händen an das Licht getragen, haſt mich ge¬ ſchaukelt, als die Mutterarme noch zu ſchwach waren für das „Hünenkind“, und niemals iſt ein Pflegling mit zärtlicheren Blicken gehütet worden, als die letzte Reckenburgerin von ihrer Muhme Juſtine. Sie war, als Wittwe eines Wachtmeiſters, in den elterlichen Dienſt getreten und hatte ihn, lediglich mit Aushülfe des Soldatenburſchen, verwaltet, auch da die Pflege der Neugeborenen ſie zum Range einer Muhme erhob. Alle Pflichten und Künſte dieſer ehr¬ würdigen Zunft hatte ſie geübt und keine ihrer be¬ freienden Befugniſſe beanſprucht. Erſt als ihr „Din¬

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/155>, abgerufen am 23.11.2024.