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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871.

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"In der nächsten Minute stand ich vor der Thür
neben meiner Alten. Unter freiem Himmel legte sich
der Schwindel allsobald, ich sah und hörte wieder
munter wie sonst und kam schier auf den Gedanken,
daß die Geschichte, -- nicht die vom todten Major,
aber die von dem Wolkenkinde, -- nur ein Spuk ge¬
wesen sei.

"Auf der Gasse war es seit der Stunde lebendig
geworden. Gleich einem aufgescheuchten Bienenschwarm
summte die Menschheit auf und nieder, und mein
altes Weib war voll wie ein Schwamm von all' den
Geschichten, die sie auf der Thürbank eingesaugt hatte.
Die Geschichten waren wahr, Gott sei's geklagt. Die
alliirte Armee hatte sich auf zwei Punkten überrumpeln
lassen und zwei hundsföttische Schlachten wurden in
den nämlichen Stunden geschlagen. Aber sie wur¬
den
just erst geschlagen. Die Stadt lag drei Stun¬
den vom nächsten Kampfplatze entfernt: wie konnte
das Volk den erbärmlichen Ausgang so dreist be¬
haupten? Witterung sagen sie, wie vom lieben Vieh
vor dem Sturm. Aber warum hatte ich die Witterung
nicht? Warum hast Du, Lisette, niemals gezittert bei
einem ersten Kanonenschlag? Weil Du ein Mann
warst, Lisette, und jene Männer alte Weiber wie die

„In der nächſten Minute ſtand ich vor der Thür
neben meiner Alten. Unter freiem Himmel legte ſich
der Schwindel allſobald, ich ſah und hörte wieder
munter wie ſonſt und kam ſchier auf den Gedanken,
daß die Geſchichte, — nicht die vom todten Major,
aber die von dem Wolkenkinde, — nur ein Spuk ge¬
weſen ſei.

„Auf der Gaſſe war es ſeit der Stunde lebendig
geworden. Gleich einem aufgeſcheuchten Bienenſchwarm
ſummte die Menſchheit auf und nieder, und mein
altes Weib war voll wie ein Schwamm von all' den
Geſchichten, die ſie auf der Thürbank eingeſaugt hatte.
Die Geſchichten waren wahr, Gott ſei's geklagt. Die
alliirte Armee hatte ſich auf zwei Punkten überrumpeln
laſſen und zwei hundsföttiſche Schlachten wurden in
den nämlichen Stunden geſchlagen. Aber ſie wur¬
den
juſt erſt geſchlagen. Die Stadt lag drei Stun¬
den vom nächſten Kampfplatze entfernt: wie konnte
das Volk den erbärmlichen Ausgang ſo dreiſt be¬
haupten? Witterung ſagen ſie, wie vom lieben Vieh
vor dem Sturm. Aber warum hatte ich die Witterung
nicht? Warum haſt Du, Liſette, niemals gezittert bei
einem erſten Kanonenſchlag? Weil Du ein Mann
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[24/0031] „In der nächſten Minute ſtand ich vor der Thür neben meiner Alten. Unter freiem Himmel legte ſich der Schwindel allſobald, ich ſah und hörte wieder munter wie ſonſt und kam ſchier auf den Gedanken, daß die Geſchichte, — nicht die vom todten Major, aber die von dem Wolkenkinde, — nur ein Spuk ge¬ weſen ſei. „Auf der Gaſſe war es ſeit der Stunde lebendig geworden. Gleich einem aufgeſcheuchten Bienenſchwarm ſummte die Menſchheit auf und nieder, und mein altes Weib war voll wie ein Schwamm von all' den Geſchichten, die ſie auf der Thürbank eingeſaugt hatte. Die Geſchichten waren wahr, Gott ſei's geklagt. Die alliirte Armee hatte ſich auf zwei Punkten überrumpeln laſſen und zwei hundsföttiſche Schlachten wurden in den nämlichen Stunden geſchlagen. Aber ſie wur¬ den juſt erſt geſchlagen. Die Stadt lag drei Stun¬ den vom nächſten Kampfplatze entfernt: wie konnte das Volk den erbärmlichen Ausgang ſo dreiſt be¬ haupten? Witterung ſagen ſie, wie vom lieben Vieh vor dem Sturm. Aber warum hatte ich die Witterung nicht? Warum haſt Du, Liſette, niemals gezittert bei einem erſten Kanonenſchlag? Weil Du ein Mann warſt, Liſette, und jene Männer alte Weiber wie die

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/31>, abgerufen am 24.11.2024.