Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

welchem Opfer die an Ehrerbietung gewöhnte Ma¬
trone ihr Geheimniß bewahrt habe und beider Wesen
beugte sich vor diesem schweigenden Heldenmuth, den
die junge Frau mit dem ihr geläufigsten Worte "Liebe"
nannte.

"Nein," so schloß Ludwig seine umsichtige Be¬
trachtung, "nein, es war nicht, was Du Liebe nennst,
Hardine, nicht ein natürlicher Zug, welcher dieser Frau
ihrer strengen Lebensregel und der hochgehaltenen Mei¬
nung der Welt Trotz bieten hieß. Und es war auch
nicht der übernatürliche Trieb des Christen, der Schmach
und Verfolgung als eine Seligkeit auf sich nimmt."

"Und was dann, Ludwig?" hauchte die junge
Frau, "was dann?"

"Ein Geheimniß, wie sie es selber nennt, ein
Geheimniß, das, wenn es sich löst, uns lehren wird,
daß wir die Macht besitzen, auch gegen unsere Nei¬
gung das Rechte zu thun. Gewissen heißt sie, jene
himmlische Macht, auf welcher in erster Ordnung
alles Menschliche sich gründet. Diese Frau erfüllte
eine Pflicht. Sie erfüllte sie voll und ganz nach ihrer
großgeschaffenen Natur. Und wenn im Laufe der
Zeit der rückwirkende Segen der Liebe ihrer Tugend
entquoll, so sind wir zweimal ihre Schuldigen ge¬

welchem Opfer die an Ehrerbietung gewöhnte Ma¬
trone ihr Geheimniß bewahrt habe und beider Weſen
beugte ſich vor dieſem ſchweigenden Heldenmuth, den
die junge Frau mit dem ihr geläufigſten Worte „Liebe“
nannte.

„Nein,“ ſo ſchloß Ludwig ſeine umſichtige Be¬
trachtung, „nein, es war nicht, was Du Liebe nennſt,
Hardine, nicht ein natürlicher Zug, welcher dieſer Frau
ihrer ſtrengen Lebensregel und der hochgehaltenen Mei¬
nung der Welt Trotz bieten hieß. Und es war auch
nicht der übernatürliche Trieb des Chriſten, der Schmach
und Verfolgung als eine Seligkeit auf ſich nimmt.“

„Und was dann, Ludwig?“ hauchte die junge
Frau, „was dann?“

„Ein Geheimniß, wie ſie es ſelber nennt, ein
Geheimniß, das, wenn es ſich löſt, uns lehren wird,
daß wir die Macht beſitzen, auch gegen unſere Nei¬
gung das Rechte zu thun. Gewiſſen heißt ſie, jene
himmliſche Macht, auf welcher in erſter Ordnung
alles Menſchliche ſich gründet. Dieſe Frau erfüllte
eine Pflicht. Sie erfüllte ſie voll und ganz nach ihrer
großgeſchaffenen Natur. Und wenn im Laufe der
Zeit der rückwirkende Segen der Liebe ihrer Tugend
entquoll, ſo ſind wir zweimal ihre Schuldigen ge¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0241" n="237"/>
welchem Opfer die an Ehrerbietung gewöhnte Ma¬<lb/>
trone ihr Geheimniß bewahrt habe und beider We&#x017F;en<lb/>
beugte &#x017F;ich vor die&#x017F;em &#x017F;chweigenden Heldenmuth, den<lb/>
die junge Frau mit dem ihr geläufig&#x017F;ten Worte &#x201E;Liebe&#x201C;<lb/>
nannte.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nein,&#x201C; &#x017F;o &#x017F;chloß Ludwig &#x017F;eine um&#x017F;ichtige Be¬<lb/>
trachtung, &#x201E;nein, es war nicht, was Du Liebe nenn&#x017F;t,<lb/>
Hardine, nicht ein natürlicher Zug, welcher die&#x017F;er Frau<lb/>
ihrer &#x017F;trengen Lebensregel und der hochgehaltenen Mei¬<lb/>
nung der Welt Trotz bieten hieß. Und es war auch<lb/>
nicht der übernatürliche Trieb des Chri&#x017F;ten, der Schmach<lb/>
und Verfolgung als eine Seligkeit auf &#x017F;ich nimmt.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Und was dann, Ludwig?&#x201C; hauchte die junge<lb/>
Frau, &#x201E;was dann?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ein Geheimniß, wie &#x017F;ie es &#x017F;elber nennt, ein<lb/>
Geheimniß, das, wenn es &#x017F;ich lö&#x017F;t, uns lehren wird,<lb/>
daß wir die Macht be&#x017F;itzen, auch gegen un&#x017F;ere Nei¬<lb/>
gung das Rechte zu thun. Gewi&#x017F;&#x017F;en heißt &#x017F;ie, jene<lb/>
himmli&#x017F;che Macht, auf welcher in er&#x017F;ter Ordnung<lb/>
alles Men&#x017F;chliche &#x017F;ich gründet. Die&#x017F;e Frau erfüllte<lb/>
eine Pflicht. Sie erfüllte &#x017F;ie voll und ganz nach ihrer<lb/>
großge&#x017F;chaffenen Natur. Und wenn im Laufe der<lb/>
Zeit der rückwirkende Segen der Liebe ihrer Tugend<lb/>
entquoll, &#x017F;o &#x017F;ind wir zweimal ihre Schuldigen ge¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[237/0241] welchem Opfer die an Ehrerbietung gewöhnte Ma¬ trone ihr Geheimniß bewahrt habe und beider Weſen beugte ſich vor dieſem ſchweigenden Heldenmuth, den die junge Frau mit dem ihr geläufigſten Worte „Liebe“ nannte. „Nein,“ ſo ſchloß Ludwig ſeine umſichtige Be¬ trachtung, „nein, es war nicht, was Du Liebe nennſt, Hardine, nicht ein natürlicher Zug, welcher dieſer Frau ihrer ſtrengen Lebensregel und der hochgehaltenen Mei¬ nung der Welt Trotz bieten hieß. Und es war auch nicht der übernatürliche Trieb des Chriſten, der Schmach und Verfolgung als eine Seligkeit auf ſich nimmt.“ „Und was dann, Ludwig?“ hauchte die junge Frau, „was dann?“ „Ein Geheimniß, wie ſie es ſelber nennt, ein Geheimniß, das, wenn es ſich löſt, uns lehren wird, daß wir die Macht beſitzen, auch gegen unſere Nei¬ gung das Rechte zu thun. Gewiſſen heißt ſie, jene himmliſche Macht, auf welcher in erſter Ordnung alles Menſchliche ſich gründet. Dieſe Frau erfüllte eine Pflicht. Sie erfüllte ſie voll und ganz nach ihrer großgeſchaffenen Natur. Und wenn im Laufe der Zeit der rückwirkende Segen der Liebe ihrer Tugend entquoll, ſo ſind wir zweimal ihre Schuldigen ge¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/241
Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/241>, abgerufen am 23.11.2024.