Die folgenden Tage vergingen in einer Art Taumel für Alfred. Sehen! sehen dürfen! denn am Können fehlt es ja nicht mehr! Er dachte kaum etwas an¬ deres, obwohl er doch auch von anderen Dingen sprach. Auch Marianne war still und tief in Ge¬ danken. Nun, da es eingetreten, schien Beiden, als sei es das sicher Erwartete, als hätte es garnicht an¬ ders kommen können. Der Arzt sprach jetzt zweimal des Tages vor. -- Die Stunde kam, wo er sagen konnte: "Morgen stehen Sie auf, und die Binde wird abgenommen, und dann wird es von Tag zu Tag etwas heller um Sie, bis Sie das volle Licht ertra¬ gen können."
In der Nacht vor Ablauf dieser letzten Zeit hatte Alfred einen seltsamen Traum. Eine Gestalt kam unhörbar herein, stand plötzlich neben seinem Bette und küßte ihn leise auf Mund und Augen. Er griff danach, doch zerfloß sie ihm unter den Händen. Mit heftigem Herzklopfen sagte er die Worte: "Ist dies ein Abschied?"
"Ja," antwortete eine gebrochene Stimme.
Er schrie auf und erwachte in unbeschreiblicher Beängstigung; er setzte sich aufrecht, heiß und zitternd und starrte im Zimmer umher. "Marianne!" rief er zuletzt; dann sich besinnend, daß sie ja nicht im gleichen Hause wohne: "Leo!"
Schlaftrunken, im Hemde, stolperte der Junge
Frapan, Bittersüß. 9
Die folgenden Tage vergingen in einer Art Taumel für Alfred. Sehen! ſehen dürfen! denn am Können fehlt es ja nicht mehr! Er dachte kaum etwas an¬ deres, obwohl er doch auch von anderen Dingen ſprach. Auch Marianne war ſtill und tief in Ge¬ danken. Nun, da es eingetreten, ſchien Beiden, als ſei es das ſicher Erwartete, als hätte es garnicht an¬ ders kommen können. Der Arzt ſprach jetzt zweimal des Tages vor. — Die Stunde kam, wo er ſagen konnte: „Morgen ſtehen Sie auf, und die Binde wird abgenommen, und dann wird es von Tag zu Tag etwas heller um Sie, bis Sie das volle Licht ertra¬ gen können.“
In der Nacht vor Ablauf dieſer letzten Zeit hatte Alfred einen ſeltſamen Traum. Eine Geſtalt kam unhörbar herein, ſtand plötzlich neben ſeinem Bette und küßte ihn leiſe auf Mund und Augen. Er griff danach, doch zerfloß ſie ihm unter den Händen. Mit heftigem Herzklopfen ſagte er die Worte: „Iſt dies ein Abſchied?“
„Ja,“ antwortete eine gebrochene Stimme.
Er ſchrie auf und erwachte in unbeſchreiblicher Beängſtigung; er ſetzte ſich aufrecht, heiß und zitternd und ſtarrte im Zimmer umher. „Marianne!“ rief er zuletzt; dann ſich beſinnend, daß ſie ja nicht im gleichen Hauſe wohne: „Leo!“
Schlaftrunken, im Hemde, ſtolperte der Junge
Frapan, Bitterſüß. 9
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Die folgenden Tage vergingen in einer Art Taumel
für Alfred. Sehen! ſehen dürfen! denn am Können
fehlt es ja nicht mehr! Er dachte kaum etwas an¬
deres, obwohl er doch auch von anderen Dingen
ſprach. Auch Marianne war ſtill und tief in Ge¬
danken. Nun, da es eingetreten, ſchien Beiden, als
ſei es das ſicher Erwartete, als hätte es garnicht an¬
ders kommen können. Der Arzt ſprach jetzt zweimal
des Tages vor. — Die Stunde kam, wo er ſagen
konnte: „Morgen ſtehen Sie auf, und die Binde wird
abgenommen, und dann wird es von Tag zu Tag
etwas heller um Sie, bis Sie das volle Licht ertra¬
gen können.“
In der Nacht vor Ablauf dieſer letzten Zeit hatte
Alfred einen ſeltſamen Traum. Eine Geſtalt kam
unhörbar herein, ſtand plötzlich neben ſeinem Bette
und küßte ihn leiſe auf Mund und Augen. Er griff
danach, doch zerfloß ſie ihm unter den Händen.
Mit heftigem Herzklopfen ſagte er die Worte: „Iſt
dies ein Abſchied?“
„Ja,“ antwortete eine gebrochene Stimme.
Er ſchrie auf und erwachte in unbeſchreiblicher
Beängſtigung; er ſetzte ſich aufrecht, heiß und zitternd
und ſtarrte im Zimmer umher. „Marianne!“ rief
er zuletzt; dann ſich beſinnend, daß ſie ja nicht im
gleichen Hauſe wohne: „Leo!“
Schlaftrunken, im Hemde, ſtolperte der Junge
Frapan, Bitterſüß. 9
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Frapan, Ilse: Bittersüß. Novellen. Berlin, 1891, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_bittersuess_1891/145>, abgerufen am 16.02.2025.
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