freute sich der junge Bildhauer auf seinen ersten Ar¬ beitstag in diesem kahlen weißgetünchten Raum, wie auf die erste Zusammenkunft mit der Geliebten. Kaum war er mit dem Vermiether einig geworden, so eilte er zu dem Maler zurück, um ihm zu danken und nun womöglich gleich sein Modell zu bestellen. Er hörte schon Kinderstimmen sprechen, bevor er die Thür öffnete, und als er es that, kam das Urbild des netten Kerlchens mit den gespreizten Beinen und nackten Schultern neugierig gelaufen und meldete sein Kommen.
Mit Wolff war jetzt noch weniger zu reden, er nickte nur und wies dann mit dem Pinsel auf eins der Kinder, das, vorläufig noch nicht im Feuer, auf einem Schemelchen am Fenster kauerte und, die Arme auf die Kniee gestützt, das Kinn in die Handflächen gelegt, gradaus guckte. Alfred sah bald, daß der Maler Recht gehabt. Es war ein Gesichtchen, auf dem noch der volle Kinderschlaf lag, nichts von Be¬ wußtsein ihrer selbst. Alfred rief sie heran und sah mit Entzücken die wohlgeformten nackten Füße, die schlanken Beinchen unter dem kurzen Rock und wun¬ derte sich über die Anmuth, mit der sich die Kleine bewegte. Babett war sieben Jahre alt, wie er müh¬ sam herausbrachte, und hatte keine Eltern mehr; der derbe Bub, der Karle war ihr Bruder. Sie trug ein schlechtes graues Miederchen, an den Nähten zerplatzt
freute ſich der junge Bildhauer auf ſeinen erſten Ar¬ beitstag in dieſem kahlen weißgetünchten Raum, wie auf die erſte Zuſammenkunft mit der Geliebten. Kaum war er mit dem Vermiether einig geworden, ſo eilte er zu dem Maler zurück, um ihm zu danken und nun womöglich gleich ſein Modell zu beſtellen. Er hörte ſchon Kinderſtimmen ſprechen, bevor er die Thür öffnete, und als er es that, kam das Urbild des netten Kerlchens mit den geſpreizten Beinen und nackten Schultern neugierig gelaufen und meldete ſein Kommen.
Mit Wolff war jetzt noch weniger zu reden, er nickte nur und wies dann mit dem Pinſel auf eins der Kinder, das, vorläufig noch nicht im Feuer, auf einem Schemelchen am Fenſter kauerte und, die Arme auf die Kniee geſtützt, das Kinn in die Handflächen gelegt, gradaus guckte. Alfred ſah bald, daß der Maler Recht gehabt. Es war ein Geſichtchen, auf dem noch der volle Kinderſchlaf lag, nichts von Be¬ wußtſein ihrer ſelbſt. Alfred rief ſie heran und ſah mit Entzücken die wohlgeformten nackten Füße, die ſchlanken Beinchen unter dem kurzen Rock und wun¬ derte ſich über die Anmuth, mit der ſich die Kleine bewegte. Babett war ſieben Jahre alt, wie er müh¬ ſam herausbrachte, und hatte keine Eltern mehr; der derbe Bub, der Karle war ihr Bruder. Sie trug ein ſchlechtes graues Miederchen, an den Nähten zerplatzt
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freute ſich der junge Bildhauer auf ſeinen erſten Ar¬
beitstag in dieſem kahlen weißgetünchten Raum, wie
auf die erſte Zuſammenkunft mit der Geliebten.
Kaum war er mit dem Vermiether einig geworden,
ſo eilte er zu dem Maler zurück, um ihm zu danken
und nun womöglich gleich ſein Modell zu beſtellen.
Er hörte ſchon Kinderſtimmen ſprechen, bevor er die
Thür öffnete, und als er es that, kam das Urbild
des netten Kerlchens mit den geſpreizten Beinen und
nackten Schultern neugierig gelaufen und meldete ſein
Kommen.
Mit Wolff war jetzt noch weniger zu reden, er
nickte nur und wies dann mit dem Pinſel auf eins
der Kinder, das, vorläufig noch nicht im Feuer, auf
einem Schemelchen am Fenſter kauerte und, die Arme
auf die Kniee geſtützt, das Kinn in die Handflächen
gelegt, gradaus guckte. Alfred ſah bald, daß der
Maler Recht gehabt. Es war ein Geſichtchen, auf
dem noch der volle Kinderſchlaf lag, nichts von Be¬
wußtſein ihrer ſelbſt. Alfred rief ſie heran und ſah
mit Entzücken die wohlgeformten nackten Füße, die
ſchlanken Beinchen unter dem kurzen Rock und wun¬
derte ſich über die Anmuth, mit der ſich die Kleine
bewegte. Babett war ſieben Jahre alt, wie er müh¬
ſam herausbrachte, und hatte keine Eltern mehr; der
derbe Bub, der Karle war ihr Bruder. Sie trug ein
ſchlechtes graues Miederchen, an den Nähten zerplatzt
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Frapan, Ilse: Bittersüß. Novellen. Berlin, 1891, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_bittersuess_1891/62>, abgerufen am 24.11.2024.
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