Schneide mit dem Finger zu berühren. Doch war der Schlüssel zum Koffer in seinen Kleidern, die sie ihm ausgezogen hatten. Wo mochten die sein? Er versuchte, aufzustehen, doch war ihm der Kopf wirr, sobald er ihn vom Kissen erhob; Alles drehte sich um ihn, daß er hülflos zurücksank. Der Tod war wohl schon nah? Er war ja sonst so stark, er war ja nie¬ mals krank gewesen. Seine Gedanken flogen an Allen vorüber, die er kannte; ob sie sein Sterben be¬ trüben wird? Die Eltern, ja, die werden traurig sein. Aber sie sind ja bei der Schwester. Er sah seine Mutter im schwarzen Kleid mit dem Gesangbuch in den Händen zur Kirche gehen. Sie weinte von Zeit zu Zeit in ihr Taschentuch und sagte: "Wäre er doch hier geblieben!" Er sah seinen Vater, tiefgebückt, den Krückstock zwischen den runzeligen Händen, vor des Pastors Denkstein auf dem Ottenser Kirchhof stehen und zu dem jungen Pastor sagen: "Das hat noch mein Sohn gemacht, kurz vor seiner Abreise nach München; er hätte es vielleicht noch zu was ge¬ bracht, aber" -- -- Er sah seinen eigenen Grabstein und darauf die Inschrift: "Gestorben, ehe er etwas hat leisten können --" und dann fiel ihm ein, daß ihm selbst dieser Grabstein nie zu Theil werden dürfe. Er war ja in der Fremde; er kam gewiß noch heute ins Spital; dem dort Gestorbenen -- wer sollte ihm einen Stein setzen? Gleichgültig wanderten seine Ge¬
Schneide mit dem Finger zu berühren. Doch war der Schlüſſel zum Koffer in ſeinen Kleidern, die ſie ihm ausgezogen hatten. Wo mochten die ſein? Er verſuchte, aufzuſtehen, doch war ihm der Kopf wirr, ſobald er ihn vom Kiſſen erhob; Alles drehte ſich um ihn, daß er hülflos zurückſank. Der Tod war wohl ſchon nah? Er war ja ſonſt ſo ſtark, er war ja nie¬ mals krank geweſen. Seine Gedanken flogen an Allen vorüber, die er kannte; ob ſie ſein Sterben be¬ trüben wird? Die Eltern, ja, die werden traurig ſein. Aber ſie ſind ja bei der Schweſter. Er ſah ſeine Mutter im ſchwarzen Kleid mit dem Geſangbuch in den Händen zur Kirche gehen. Sie weinte von Zeit zu Zeit in ihr Taſchentuch und ſagte: „Wäre er doch hier geblieben!“ Er ſah ſeinen Vater, tiefgebückt, den Krückſtock zwiſchen den runzeligen Händen, vor des Paſtors Denkſtein auf dem Ottenſer Kirchhof ſtehen und zu dem jungen Paſtor ſagen: „Das hat noch mein Sohn gemacht, kurz vor ſeiner Abreiſe nach München; er hätte es vielleicht noch zu was ge¬ bracht, aber“ — — Er ſah ſeinen eigenen Grabſtein und darauf die Inſchrift: „Geſtorben, ehe er etwas hat leiſten können —“ und dann fiel ihm ein, daß ihm ſelbſt dieſer Grabſtein nie zu Theil werden dürfe. Er war ja in der Fremde; er kam gewiß noch heute ins Spital; dem dort Geſtorbenen — wer ſollte ihm einen Stein ſetzen? Gleichgültig wanderten ſeine Ge¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0096"n="80"/>
Schneide mit dem Finger zu berühren. Doch war<lb/>
der Schlüſſel zum Koffer in ſeinen Kleidern, die ſie<lb/>
ihm ausgezogen hatten. Wo mochten die ſein? Er<lb/>
verſuchte, aufzuſtehen, doch war ihm der Kopf wirr,<lb/>ſobald er ihn vom Kiſſen erhob; Alles drehte ſich um<lb/>
ihn, daß er hülflos zurückſank. Der Tod war wohl<lb/>ſchon nah? Er war ja ſonſt ſo ſtark, er war ja nie¬<lb/>
mals krank geweſen. Seine Gedanken flogen an<lb/>
Allen vorüber, die er kannte; ob ſie ſein Sterben be¬<lb/>
trüben wird? Die Eltern, ja, die werden traurig ſein.<lb/>
Aber ſie ſind ja bei der Schweſter. Er ſah ſeine<lb/>
Mutter im ſchwarzen Kleid mit dem Geſangbuch in<lb/>
den Händen zur Kirche gehen. Sie weinte von Zeit<lb/>
zu Zeit in ihr Taſchentuch und ſagte: „Wäre er doch<lb/>
hier geblieben!“ Er ſah ſeinen Vater, tiefgebückt,<lb/>
den Krückſtock zwiſchen den runzeligen Händen, vor<lb/>
des Paſtors Denkſtein auf dem Ottenſer Kirchhof<lb/>ſtehen und zu dem jungen Paſtor ſagen: „Das hat<lb/>
noch mein Sohn gemacht, kurz vor ſeiner Abreiſe<lb/>
nach München; er hätte es vielleicht noch zu was ge¬<lb/>
bracht, aber“—— Er ſah ſeinen eigenen Grabſtein<lb/>
und darauf die Inſchrift: „Geſtorben, ehe er etwas<lb/>
hat leiſten können —“ und dann fiel ihm ein, daß<lb/>
ihm ſelbſt dieſer Grabſtein nie zu Theil werden dürfe.<lb/>
Er war ja in der Fremde; er kam gewiß noch heute<lb/>
ins Spital; dem dort Geſtorbenen — wer ſollte ihm<lb/>
einen Stein ſetzen? Gleichgültig wanderten ſeine Ge¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[80/0096]
Schneide mit dem Finger zu berühren. Doch war
der Schlüſſel zum Koffer in ſeinen Kleidern, die ſie
ihm ausgezogen hatten. Wo mochten die ſein? Er
verſuchte, aufzuſtehen, doch war ihm der Kopf wirr,
ſobald er ihn vom Kiſſen erhob; Alles drehte ſich um
ihn, daß er hülflos zurückſank. Der Tod war wohl
ſchon nah? Er war ja ſonſt ſo ſtark, er war ja nie¬
mals krank geweſen. Seine Gedanken flogen an
Allen vorüber, die er kannte; ob ſie ſein Sterben be¬
trüben wird? Die Eltern, ja, die werden traurig ſein.
Aber ſie ſind ja bei der Schweſter. Er ſah ſeine
Mutter im ſchwarzen Kleid mit dem Geſangbuch in
den Händen zur Kirche gehen. Sie weinte von Zeit
zu Zeit in ihr Taſchentuch und ſagte: „Wäre er doch
hier geblieben!“ Er ſah ſeinen Vater, tiefgebückt,
den Krückſtock zwiſchen den runzeligen Händen, vor
des Paſtors Denkſtein auf dem Ottenſer Kirchhof
ſtehen und zu dem jungen Paſtor ſagen: „Das hat
noch mein Sohn gemacht, kurz vor ſeiner Abreiſe
nach München; er hätte es vielleicht noch zu was ge¬
bracht, aber“ — — Er ſah ſeinen eigenen Grabſtein
und darauf die Inſchrift: „Geſtorben, ehe er etwas
hat leiſten können —“ und dann fiel ihm ein, daß
ihm ſelbſt dieſer Grabſtein nie zu Theil werden dürfe.
Er war ja in der Fremde; er kam gewiß noch heute
ins Spital; dem dort Geſtorbenen — wer ſollte ihm
einen Stein ſetzen? Gleichgültig wanderten ſeine Ge¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Frapan, Ilse: Bittersüß. Novellen. Berlin, 1891, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_bittersuess_1891/96>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.