Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Frapan, Ilse [i. e. Ilse Akunian]: Flügel auf! Novellen. Berlin, 1895.

Bild:
<< vorherige Seite
Ach wer zählt die Thränen, hört die Klagen?
Kalte Mauern haben sie getrunken.
Nirgends bleibt, wenn sie ins Nichts versunken,
Eine Spur von ihren Lebenstagen.
Ohne Zukunft, ohne Hoffnungsschimmer
Sag ich lebewohl in tiefem Leide.
Letzte Thorheit, lebe wohl für immer,
Lebe wohl, du meine letzte Freude.

Das war sehr unerwartet. Der Student ließ das Blatt auf den Tisch fallen, schob es dann noch ein bißchen weiter fort. Echt? oder Koketterie? Besonders das Wort von der Thorheit mißfiel ihm. Er die Thorheit eines Frauenzimmers? Es war diese Strophe, die ihm im Gedächtniß blieb und darin heumbrummte wie eine gefangene Hummel in einem Glas. Abgedankt, ehe es noch recht angefangen hatte? Und doch war etwas in den klagenden Tönen, was sich an sein Mitleid wandte. "Entweder kommt's jetzt erst recht, oder es ist aus," sagte er unsicher. Allmählich aber schien es wirklich aus zu sein. Er fühlte nämlich zum erstenmal nicht die geringste Neigung zu antworten. Ihm kam auch kein Einfall. Es war ein feierlicher Ernst in ihren letzten Worten, ein Ernst, der ihm fremd war, der ihm unnatürlich, forcirt vorkam. Er mochte auch nicht das Klavier machen für die ersten besten musikbedürftigen Hände und dann in den Winkel gestellt werden. Und wie gehorsam hatte er getönt, was sie anschlug. Aber

Ach wer zählt die Thränen, hört die Klagen?
Kalte Mauern haben sie getrunken.
Nirgends bleibt, wenn sie ins Nichts versunken,
Eine Spur von ihren Lebenstagen.
Ohne Zukunft, ohne Hoffnungsschimmer
Sag ich lebewohl in tiefem Leide.
Letzte Thorheit, lebe wohl für immer,
Lebe wohl, du meine letzte Freude.

Das war sehr unerwartet. Der Student ließ das Blatt auf den Tisch fallen, schob es dann noch ein bißchen weiter fort. Echt? oder Koketterie? Besonders das Wort von der Thorheit mißfiel ihm. Er die Thorheit eines Frauenzimmers? Es war diese Strophe, die ihm im Gedächtniß blieb und darin heumbrummte wie eine gefangene Hummel in einem Glas. Abgedankt, ehe es noch recht angefangen hatte? Und doch war etwas in den klagenden Tönen, was sich an sein Mitleid wandte. „Entweder kommt’s jetzt erst recht, oder es ist aus,“ sagte er unsicher. Allmählich aber schien es wirklich aus zu sein. Er fühlte nämlich zum erstenmal nicht die geringste Neigung zu antworten. Ihm kam auch kein Einfall. Es war ein feierlicher Ernst in ihren letzten Worten, ein Ernst, der ihm fremd war, der ihm unnatürlich, forcirt vorkam. Er mochte auch nicht das Klavier machen für die ersten besten musikbedürftigen Hände und dann in den Winkel gestellt werden. Und wie gehorsam hatte er getönt, was sie anschlug. Aber

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <lg type="poem">
          <pb facs="#f0076" n="68"/>
          <lg>
            <l>Ach wer zählt die Thränen, hört die Klagen?</l><lb/>
            <l>Kalte Mauern haben sie getrunken.</l><lb/>
            <l>Nirgends bleibt, wenn sie ins Nichts versunken,</l><lb/>
            <l>Eine Spur von ihren Lebenstagen.</l><lb/>
          </lg>
          <lg>
            <l>Ohne Zukunft, ohne Hoffnungsschimmer</l><lb/>
            <l>Sag ich lebewohl in tiefem Leide.</l><lb/>
            <l>Letzte Thorheit, lebe wohl für immer,</l><lb/>
            <l>Lebe wohl, du meine letzte Freude.</l><lb/>
          </lg>
        </lg>
        <p>Das war sehr unerwartet. Der Student ließ das Blatt auf den Tisch fallen, schob es dann noch ein bißchen weiter fort. Echt? oder Koketterie? Besonders das Wort von der Thorheit mißfiel ihm. Er die Thorheit eines Frauenzimmers? Es war diese Strophe, die ihm im Gedächtniß blieb und darin heumbrummte wie eine gefangene Hummel in einem Glas. Abgedankt, ehe es noch recht angefangen hatte? Und doch war etwas in den klagenden Tönen, was sich an sein Mitleid wandte. &#x201E;Entweder kommt&#x2019;s jetzt erst recht, oder es ist aus,&#x201C; sagte er unsicher. Allmählich aber schien es wirklich aus zu sein. Er fühlte nämlich zum erstenmal nicht die geringste Neigung zu antworten. Ihm kam auch kein Einfall. Es war ein feierlicher Ernst in ihren letzten Worten, ein Ernst, der ihm fremd war, der ihm unnatürlich, forcirt vorkam. Er mochte auch nicht das Klavier machen für die ersten besten musikbedürftigen Hände und dann in den Winkel gestellt werden. Und wie gehorsam hatte er getönt, was sie anschlug. Aber
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0076] Ach wer zählt die Thränen, hört die Klagen? Kalte Mauern haben sie getrunken. Nirgends bleibt, wenn sie ins Nichts versunken, Eine Spur von ihren Lebenstagen. Ohne Zukunft, ohne Hoffnungsschimmer Sag ich lebewohl in tiefem Leide. Letzte Thorheit, lebe wohl für immer, Lebe wohl, du meine letzte Freude. Das war sehr unerwartet. Der Student ließ das Blatt auf den Tisch fallen, schob es dann noch ein bißchen weiter fort. Echt? oder Koketterie? Besonders das Wort von der Thorheit mißfiel ihm. Er die Thorheit eines Frauenzimmers? Es war diese Strophe, die ihm im Gedächtniß blieb und darin heumbrummte wie eine gefangene Hummel in einem Glas. Abgedankt, ehe es noch recht angefangen hatte? Und doch war etwas in den klagenden Tönen, was sich an sein Mitleid wandte. „Entweder kommt’s jetzt erst recht, oder es ist aus,“ sagte er unsicher. Allmählich aber schien es wirklich aus zu sein. Er fühlte nämlich zum erstenmal nicht die geringste Neigung zu antworten. Ihm kam auch kein Einfall. Es war ein feierlicher Ernst in ihren letzten Worten, ein Ernst, der ihm fremd war, der ihm unnatürlich, forcirt vorkam. Er mochte auch nicht das Klavier machen für die ersten besten musikbedürftigen Hände und dann in den Winkel gestellt werden. Und wie gehorsam hatte er getönt, was sie anschlug. Aber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Geviertstriche (—) wurden durch Halbgeviertstriche ersetzt (–).



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_fluegel_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_fluegel_1895/76
Zitationshilfe: Frapan, Ilse [i. e. Ilse Akunian]: Flügel auf! Novellen. Berlin, 1895, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/frapan_fluegel_1895/76>, abgerufen am 24.11.2024.