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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Man kann dieselbe Thatsache der nachträglichen Erledigung während der Krankenpflege gesammelter Traumen gelegentlich auch antreffen, wo der Gesammteindruck des Krankseins nicht zu Stande kommt, der Mechanismus der Hysterie aber doch gewahrt wird. So kenne ich eine hochbegabte, an leichten nervösen Zuständen leidende Frau, deren ganzes Wesen die Hysterica bezeugt, wenngleich sie nie den Aerzten zur Last gefallen ist, nie die Ausübung ihrer Pflichten hat unterbrechen müssen. Diese Frau hat bereits 3 oder 4 ihrer Lieben zu Tode gepflegt, jedesmal bis zur vollen körperlichen Erschöpfung; sie ist auch nach diesen traurigen Leistungen nicht erkrankt. Aber kurze Zeit nach dem Tode des Kranken beginnt in ihr die Reproductionsarbeit, welche ihr die Scenen der Krankheit und des Sterbens nochmals vor die Augen führt. Sie macht jeden Tag jeden Eindruck von Neuem durch, weint darüber und tröstet sich darüber, - man möchte sagen in Musse. Solche Erledigung geht bei ihr durch die Geschäfte des Tages durch, ohne dass die beiden Thätigkeiten sich verwirren. Das Ganze zieht chronologisch an ihr vorüber. Ob die Erinnerungsarbeit eines Tages genau einen Tag der Vergangenheit deckt, weiss ich nicht. Ich vermuthe, diess hängt von der Musse ab, welche ihr die laufenden Geschäfte des Haushaltes lassen.

Ausser dieser "nachholenden Thräne", die sich an den Todesfall mit kurzem Intervall anschliesst, hält diese Frau periodische Erinnerungsfeier alljährlich um die Zeit der einzelnen Katastrophen, und hier folgt ihre lebhafte visuelle Reproduction und ihre Affectäusserung getreulich dem Datum. Ich treffe sie beispielsweise in Thränen und erkundige mich theilnehmend, was es heute gegeben hat. Sie wehrt die Nachfrage halb ärgerlich ab: "Ach nein, es war nur heute der Hofrath N. ... wieder da und hat uns zu verstehen gegeben, dass nichts zu erwarten ist. Ich hab' damals keine Zeit gehabt, darüber zu weinen." Sie bezieht sich auf die letzte Krankheit ihres Mannes, der vor 3 Jahren gestorben ist. Es wäre mir sehr interessant zu wissen, ob sie bei diesen jährlich wiederkehrenden Erinnerungsfeiern stets dieselben Scenen wiederholt, oder oh sich ihr jedesmal andere Einzelheiten zum Abreagiren darbieten, wie ich im Interesse meiner Theorie vermuthe. Ich kann aber nichts Sicheres darüber erfahren, die ebenso kluge als starke Frau schämt sich der Heftigkeit, mit welcher jene Reminiscenzen auf sie wirken.1

1 Ich habe einmal mit Verwunderung erfahren, dass ein solches "nachholendes Abreagiren" - nach anderen Eindrücken als bei einer Krankenpflege - den Inhalt

Man kann dieselbe Thatsache der nachträglichen Erledigung während der Krankenpflege gesammelter Traumen gelegentlich auch antreffen, wo der Gesammteindruck des Krankseins nicht zu Stande kommt, der Mechanismus der Hysterie aber doch gewahrt wird. So kenne ich eine hochbegabte, an leichten nervösen Zuständen leidende Frau, deren ganzes Wesen die Hysterica bezeugt, wenngleich sie nie den Aerzten zur Last gefallen ist, nie die Ausübung ihrer Pflichten hat unterbrechen müssen. Diese Frau hat bereits 3 oder 4 ihrer Lieben zu Tode gepflegt, jedesmal bis zur vollen körperlichen Erschöpfung; sie ist auch nach diesen traurigen Leistungen nicht erkrankt. Aber kurze Zeit nach dem Tode des Kranken beginnt in ihr die Reproductionsarbeit, welche ihr die Scenen der Krankheit und des Sterbens nochmals vor die Augen führt. Sie macht jeden Tag jeden Eindruck von Neuem durch, weint darüber und tröstet sich darüber, – man möchte sagen in Musse. Solche Erledigung geht bei ihr durch die Geschäfte des Tages durch, ohne dass die beiden Thätigkeiten sich verwirren. Das Ganze zieht chronologisch an ihr vorüber. Ob die Erinnerungsarbeit eines Tages genau einen Tag der Vergangenheit deckt, weiss ich nicht. Ich vermuthe, diess hängt von der Musse ab, welche ihr die laufenden Geschäfte des Haushaltes lassen.

Ausser dieser „nachholenden Thräne“, die sich an den Todesfall mit kurzem Intervall anschliesst, hält diese Frau periodische Erinnerungsfeier alljährlich um die Zeit der einzelnen Katastrophen, und hier folgt ihre lebhafte visuelle Reproduction und ihre Affectäusserung getreulich dem Datum. Ich treffe sie beispielsweise in Thränen und erkundige mich theilnehmend, was es heute gegeben hat. Sie wehrt die Nachfrage halb ärgerlich ab: „Ach nein, es war nur heute der Hofrath N. ... wieder da und hat uns zu verstehen gegeben, dass nichts zu erwarten ist. Ich hab' damals keine Zeit gehabt, darüber zu weinen.“ Sie bezieht sich auf die letzte Krankheit ihres Mannes, der vor 3 Jahren gestorben ist. Es wäre mir sehr interessant zu wissen, ob sie bei diesen jährlich wiederkehrenden Erinnerungsfeiern stets dieselben Scenen wiederholt, oder oh sich ihr jedesmal andere Einzelheiten zum Abreagiren darbieten, wie ich im Interesse meiner Theorie vermuthe. Ich kann aber nichts Sicheres darüber erfahren, die ebenso kluge als starke Frau schämt sich der Heftigkeit, mit welcher jene Reminiscenzen auf sie wirken.1

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[142/0148] Man kann dieselbe Thatsache der nachträglichen Erledigung während der Krankenpflege gesammelter Traumen gelegentlich auch antreffen, wo der Gesammteindruck des Krankseins nicht zu Stande kommt, der Mechanismus der Hysterie aber doch gewahrt wird. So kenne ich eine hochbegabte, an leichten nervösen Zuständen leidende Frau, deren ganzes Wesen die Hysterica bezeugt, wenngleich sie nie den Aerzten zur Last gefallen ist, nie die Ausübung ihrer Pflichten hat unterbrechen müssen. Diese Frau hat bereits 3 oder 4 ihrer Lieben zu Tode gepflegt, jedesmal bis zur vollen körperlichen Erschöpfung; sie ist auch nach diesen traurigen Leistungen nicht erkrankt. Aber kurze Zeit nach dem Tode des Kranken beginnt in ihr die Reproductionsarbeit, welche ihr die Scenen der Krankheit und des Sterbens nochmals vor die Augen führt. Sie macht jeden Tag jeden Eindruck von Neuem durch, weint darüber und tröstet sich darüber, – man möchte sagen in Musse. Solche Erledigung geht bei ihr durch die Geschäfte des Tages durch, ohne dass die beiden Thätigkeiten sich verwirren. Das Ganze zieht chronologisch an ihr vorüber. Ob die Erinnerungsarbeit eines Tages genau einen Tag der Vergangenheit deckt, weiss ich nicht. Ich vermuthe, diess hängt von der Musse ab, welche ihr die laufenden Geschäfte des Haushaltes lassen. Ausser dieser „nachholenden Thräne“, die sich an den Todesfall mit kurzem Intervall anschliesst, hält diese Frau periodische Erinnerungsfeier alljährlich um die Zeit der einzelnen Katastrophen, und hier folgt ihre lebhafte visuelle Reproduction und ihre Affectäusserung getreulich dem Datum. Ich treffe sie beispielsweise in Thränen und erkundige mich theilnehmend, was es heute gegeben hat. Sie wehrt die Nachfrage halb ärgerlich ab: „Ach nein, es war nur heute der Hofrath N. ... wieder da und hat uns zu verstehen gegeben, dass nichts zu erwarten ist. Ich hab' damals keine Zeit gehabt, darüber zu weinen.“ Sie bezieht sich auf die letzte Krankheit ihres Mannes, der vor 3 Jahren gestorben ist. Es wäre mir sehr interessant zu wissen, ob sie bei diesen jährlich wiederkehrenden Erinnerungsfeiern stets dieselben Scenen wiederholt, oder oh sich ihr jedesmal andere Einzelheiten zum Abreagiren darbieten, wie ich im Interesse meiner Theorie vermuthe. Ich kann aber nichts Sicheres darüber erfahren, die ebenso kluge als starke Frau schämt sich der Heftigkeit, mit welcher jene Reminiscenzen auf sie wirken. 1 1 Ich habe einmal mit Verwunderung erfahren, dass ein solches „nachholendes Abreagiren“ – nach anderen Eindrücken als bei einer Krankenpflege – den Inhalt

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/148>, abgerufen am 23.11.2024.