Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorgang (d. h. die Erinnerung daran) wirke noch nach Jahren fort, nicht indirect durch Vermittelung einer Kette von causalen Zwischengliedern, sondern unmittelbar als auslösende Ursache, wie etwa ein im wachen Bewusstsein erinnerter psychischer Schmerz noch in später Zeit die Thränensecretion hervorruft: der Hysterische leide grösstentheils an Reminiscenzen".

Wenn dies aber der Fall ist, wenn die Erinnerung an das psychische Trauma, nach Art eines Fremdkörpers, lange Zeit nach seinem Eindringen noch als gegenwärtig wirkendes Agens gelten muss, und doch der Kranke von diesen Erinnerungen und ihrem Auftauchen kein Bewusstsein hat, so müssen wir zugestehen, dass unbewusste Vorstellungen existiren und wirken.

Wir finden aber solche bei der Analyse der hysterischen Phänomene nicht bloss vereinzelt, sondern müssen anerkennen, dass wirklich, wie die verdienstvollen französischen Forscher gezeigt haben, grosse Complexe von Vorstellungen und verwickelte, folgenreiche psychische Processe bei manchen Kranken völlig unbewusst bleiben und mit dem bewussten psychischen Leben coexistiren; dass eine Spaltung der psychischen Thätigkeit vorkommt, und dass diese fundamentale Wichtigkeit hat für das Verständniss complicirter Hysterien.

Es sei gestattet, auf dieses schwierige und dunkle Gebiet etwas einzugehen; die Notwendigkeit, den Sinn der gebrauchten Ausdrücke festzustellen, mag die theoretisirende Auseinandersetzung einigermaassen entschuldigen.

V. Unbewusste und bewusstseinsunfähige Vorstellungen. Spaltung der Psyche.

Wir nennen jene Vorstellungen bewusst, von denen wir wissen. Es besteht beim Menschen die wunderbare Thatsache des Selbstbewusstseins; wir können Vorstellungen, die in uns auftauchen und einander folgen, wie Objecte betrachten und beobachten. Dies geschieht nicht immer, da ja zur Selbstbeobachtung selten Anlass ist. Aber es ist eine allen Menschen eigene Fähigkeit, denn jeder sagt: ich habe das und das gedacht. Jene Vorstellungen, die wir als in uns lebendig beobachten oder beobachten würden, wenn wir darauf Acht hätten, nennen wir bewusste. Das sind in jedem Zeitmomente nur sehr wenige; und wenn ausser diesen noch andere actuell sein sollten, müssten wir sie unbewusste Vorstellungen nennen.

Vorgang (d. h. die Erinnerung daran) wirke noch nach Jahren fort, nicht indirect durch Vermittelung einer Kette von causalen Zwischengliedern, sondern unmittelbar als auslösende Ursache, wie etwa ein im wachen Bewusstsein erinnerter psychischer Schmerz noch in später Zeit die Thränensecretion hervorruft: der Hysterische leide grösstentheils an Reminiscenzen“.

Wenn dies aber der Fall ist, wenn die Erinnerung an das psychische Trauma, nach Art eines Fremdkörpers, lange Zeit nach seinem Eindringen noch als gegenwärtig wirkendes Agens gelten muss, und doch der Kranke von diesen Erinnerungen und ihrem Auftauchen kein Bewusstsein hat, so müssen wir zugestehen, dass unbewusste Vorstellungen existiren und wirken.

Wir finden aber solche bei der Analyse der hysterischen Phänomene nicht bloss vereinzelt, sondern müssen anerkennen, dass wirklich, wie die verdienstvollen französischen Forscher gezeigt haben, grosse Complexe von Vorstellungen und verwickelte, folgenreiche psychische Processe bei manchen Kranken völlig unbewusst bleiben und mit dem bewussten psychischen Leben coexistiren; dass eine Spaltung der psychischen Thätigkeit vorkommt, und dass diese fundamentale Wichtigkeit hat für das Verständniss complicirter Hysterien.

Es sei gestattet, auf dieses schwierige und dunkle Gebiet etwas einzugehen; die Notwendigkeit, den Sinn der gebrauchten Ausdrücke festzustellen, mag die theoretisirende Auseinandersetzung einigermaassen entschuldigen.

V. Unbewusste und bewusstseinsunfähige Vorstellungen. Spaltung der Psyche.

Wir nennen jene Vorstellungen bewusst, von denen wir wissen. Es besteht beim Menschen die wunderbare Thatsache des Selbstbewusstseins; wir können Vorstellungen, die in uns auftauchen und einander folgen, wie Objecte betrachten und beobachten. Dies geschieht nicht immer, da ja zur Selbstbeobachtung selten Anlass ist. Aber es ist eine allen Menschen eigene Fähigkeit, denn jeder sagt: ich habe das und das gedacht. Jene Vorstellungen, die wir als in uns lebendig beobachten oder beobachten würden, wenn wir darauf Acht hätten, nennen wir bewusste. Das sind in jedem Zeitmomente nur sehr wenige; und wenn ausser diesen noch andere actuell sein sollten, müssten wir sie unbewusste Vorstellungen nennen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div>
          <p><pb facs="#f0200" n="194"/>
Vorgang (d. h. die Erinnerung daran) wirke noch nach Jahren fort, nicht indirect durch Vermittelung einer Kette von causalen Zwischengliedern, sondern unmittelbar als auslösende Ursache, wie etwa ein im wachen Bewusstsein erinnerter psychischer Schmerz noch in später Zeit die Thränensecretion hervorruft: der Hysterische leide grösstentheils an Reminiscenzen&#x201C;.</p>
          <p>Wenn dies aber der Fall ist, wenn die Erinnerung an das psychische Trauma, nach Art eines Fremdkörpers, lange Zeit nach seinem Eindringen noch als gegenwärtig wirkendes Agens gelten muss, und doch der Kranke von diesen Erinnerungen und ihrem Auftauchen kein Bewusstsein hat, so müssen wir zugestehen, dass <hi rendition="#g">unbewusste Vorstellungen</hi> existiren und wirken.</p>
          <p>Wir finden aber solche bei der Analyse der hysterischen Phänomene nicht bloss vereinzelt, sondern müssen anerkennen, dass wirklich, wie die verdienstvollen französischen Forscher gezeigt haben, grosse Complexe von Vorstellungen und verwickelte, folgenreiche psychische Processe bei manchen Kranken völlig unbewusst bleiben und mit dem bewussten psychischen Leben coexistiren; dass eine Spaltung der psychischen Thätigkeit vorkommt, und dass diese fundamentale Wichtigkeit hat für das Verständniss complicirter Hysterien.</p>
          <p>Es sei gestattet, auf dieses schwierige und dunkle Gebiet etwas einzugehen; die Notwendigkeit, den Sinn der gebrauchten Ausdrücke festzustellen, mag die theoretisirende Auseinandersetzung einigermaassen entschuldigen.</p>
        </div>
        <div>
          <head>V. Unbewusste und bewusstseinsunfähige Vorstellungen. Spaltung der Psyche.</head><lb/>
          <p>Wir nennen jene Vorstellungen bewusst, von denen wir wissen. Es besteht beim Menschen die wunderbare Thatsache des Selbstbewusstseins; wir können Vorstellungen, die in uns auftauchen und einander folgen, wie Objecte betrachten und beobachten. Dies geschieht nicht immer, da ja zur Selbstbeobachtung selten Anlass ist. Aber es ist eine allen Menschen eigene Fähigkeit, denn jeder sagt: ich habe das und das gedacht. Jene Vorstellungen, die wir als in uns lebendig beobachten oder beobachten würden, wenn wir darauf Acht hätten, nennen wir bewusste. Das sind in jedem Zeitmomente nur sehr wenige; und wenn ausser diesen noch andere actuell sein sollten, müssten wir sie <hi rendition="#g">unbewusste</hi> Vorstellungen nennen.</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[194/0200] Vorgang (d. h. die Erinnerung daran) wirke noch nach Jahren fort, nicht indirect durch Vermittelung einer Kette von causalen Zwischengliedern, sondern unmittelbar als auslösende Ursache, wie etwa ein im wachen Bewusstsein erinnerter psychischer Schmerz noch in später Zeit die Thränensecretion hervorruft: der Hysterische leide grösstentheils an Reminiscenzen“. Wenn dies aber der Fall ist, wenn die Erinnerung an das psychische Trauma, nach Art eines Fremdkörpers, lange Zeit nach seinem Eindringen noch als gegenwärtig wirkendes Agens gelten muss, und doch der Kranke von diesen Erinnerungen und ihrem Auftauchen kein Bewusstsein hat, so müssen wir zugestehen, dass unbewusste Vorstellungen existiren und wirken. Wir finden aber solche bei der Analyse der hysterischen Phänomene nicht bloss vereinzelt, sondern müssen anerkennen, dass wirklich, wie die verdienstvollen französischen Forscher gezeigt haben, grosse Complexe von Vorstellungen und verwickelte, folgenreiche psychische Processe bei manchen Kranken völlig unbewusst bleiben und mit dem bewussten psychischen Leben coexistiren; dass eine Spaltung der psychischen Thätigkeit vorkommt, und dass diese fundamentale Wichtigkeit hat für das Verständniss complicirter Hysterien. Es sei gestattet, auf dieses schwierige und dunkle Gebiet etwas einzugehen; die Notwendigkeit, den Sinn der gebrauchten Ausdrücke festzustellen, mag die theoretisirende Auseinandersetzung einigermaassen entschuldigen. V. Unbewusste und bewusstseinsunfähige Vorstellungen. Spaltung der Psyche. Wir nennen jene Vorstellungen bewusst, von denen wir wissen. Es besteht beim Menschen die wunderbare Thatsache des Selbstbewusstseins; wir können Vorstellungen, die in uns auftauchen und einander folgen, wie Objecte betrachten und beobachten. Dies geschieht nicht immer, da ja zur Selbstbeobachtung selten Anlass ist. Aber es ist eine allen Menschen eigene Fähigkeit, denn jeder sagt: ich habe das und das gedacht. Jene Vorstellungen, die wir als in uns lebendig beobachten oder beobachten würden, wenn wir darauf Acht hätten, nennen wir bewusste. Das sind in jedem Zeitmomente nur sehr wenige; und wenn ausser diesen noch andere actuell sein sollten, müssten wir sie unbewusste Vorstellungen nennen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/200
Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/200>, abgerufen am 24.11.2024.