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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Ansichten des Gegenstandes zu einer körperhaften Realität combiniren. Der Eclecticismus scheint mir darum kein Tadel.

Aber wie weit von der Möglichkeit eines solchen vollständigen Verständnisses der Hysterie sind wir heute noch! Mit wie unsicheren Zügen sind hier die Contouren umrissen worden, mit wie plumpen Hilfsvorstellungen sind die klaffenden Lücken mehr verdeckt als ausgefüllt. Nur die eine Erwägung beruhigt einigermaassen: dass dieses Uebel allen physiologischen Darstellungen complicirter psychischer Vorgänge anhaftet und anhaften muss. Von ihnen gilt immer, was Theseus im Sommernachtstraum von der Tragödie sagt: "Auch das Beste dieser Art ist nur ein Schattenspiel". Und auch das Schwächste ist nicht wertlos, wenn es sucht in Treue und Bescheidenheit die Schattenrisse festzuhalten, welche die unbekannten wirklichen Objecte auf die Wand werfen. Dann ist doch immer die Hoffnung berechtigt, dass irgend ein Maass von Uebereinstimmung und Aehnlichkeit zwischen den wirklichen Vorgängen und unserer Vorstellung davon bestehen werde.

Ansichten des Gegenstandes zu einer körperhaften Realität combiniren. Der Eclecticismus scheint mir darum kein Tadel.

Aber wie weit von der Möglichkeit eines solchen vollständigen Verständnisses der Hysterie sind wir heute noch! Mit wie unsicheren Zügen sind hier die Contouren umrissen worden, mit wie plumpen Hilfsvorstellungen sind die klaffenden Lücken mehr verdeckt als ausgefüllt. Nur die eine Erwägung beruhigt einigermaassen: dass dieses Uebel allen physiologischen Darstellungen complicirter psychischer Vorgänge anhaftet und anhaften muss. Von ihnen gilt immer, was Theseus im Sommernachtstraum von der Tragödie sagt: „Auch das Beste dieser Art ist nur ein Schattenspiel“. Und auch das Schwächste ist nicht wertlos, wenn es sucht in Treue und Bescheidenheit die Schattenrisse festzuhalten, welche die unbekannten wirklichen Objecte auf die Wand werfen. Dann ist doch immer die Hoffnung berechtigt, dass irgend ein Maass von Uebereinstimmung und Aehnlichkeit zwischen den wirklichen Vorgängen und unserer Vorstellung davon bestehen werde.

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[221/0227] Ansichten des Gegenstandes zu einer körperhaften Realität combiniren. Der Eclecticismus scheint mir darum kein Tadel. Aber wie weit von der Möglichkeit eines solchen vollständigen Verständnisses der Hysterie sind wir heute noch! Mit wie unsicheren Zügen sind hier die Contouren umrissen worden, mit wie plumpen Hilfsvorstellungen sind die klaffenden Lücken mehr verdeckt als ausgefüllt. Nur die eine Erwägung beruhigt einigermaassen: dass dieses Uebel allen physiologischen Darstellungen complicirter psychischer Vorgänge anhaftet und anhaften muss. Von ihnen gilt immer, was Theseus im Sommernachtstraum von der Tragödie sagt: „Auch das Beste dieser Art ist nur ein Schattenspiel“. Und auch das Schwächste ist nicht wertlos, wenn es sucht in Treue und Bescheidenheit die Schattenrisse festzuhalten, welche die unbekannten wirklichen Objecte auf die Wand werfen. Dann ist doch immer die Hoffnung berechtigt, dass irgend ein Maass von Uebereinstimmung und Aehnlichkeit zwischen den wirklichen Vorgängen und unserer Vorstellung davon bestehen werde.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/227>, abgerufen am 21.11.2024.