Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.aus denen die ätiologischen Momente der Neurosen fliessen. Diess lässt sich unschwer im Einzelnen durchführen und erweisen; für die Hysterie folgt aber hieraus, dass es kaum möglich ist, sie für die Betrachtung aus dem Zusammenhange der Sexualneurosen zu reissen; dass sie in der Regel nur eine Seite, einen Aspect des complicirten neurotischen Falles darstellt, und dass sie nur gleichsam im Grenzfall als isolirte Neurose gefunden werden und behandelt werden kann. Man darf etwa in einer Reihe von Fällen sagen: a potiori fit denominatio. Ich will die hier mitgetheilten Krankengeschichten daraufhin prüfen, ob sie meiner Auffassung von der klinischen Unselbständigkeit der Hysterie das Wort reden. Anna O., die Kranke Breuer's, scheint dem zu widersprechen und eine rein hysterische Erkrankung zu erläutern. Allein dieser Fall, der so fruchtbar für die Erkenntniss der Hysterie geworden ist, wurde von seinem Beobachter gar nicht unter den Gesichtspunkt der Sexualneurose gebracht und ist heute einfach für diesen nicht zu verwerthen. Als ich die zweite Kranke, Frau Emmy v. N., zu analysiren begann, lag mir die Erwartung einer Sexualneurose als Boden für die Hysterie ziemlich ferne; ich war frisch aus der Schule Charcot's gekommen und betrachtete die Verknüpfung einer Hysterie mit dem Thema der Sexualität als eine Art von Schimpf - ähnlich wie die Patientinnen selbst es pflegen. Wenn ich heute meine Notizen über diesen Fall überblicke, ist es mir ganz unzweifelhaft, dass ich einen Fall einer schweren Angstneurose mit ängstlicher Erwartung und Phobien anerkennen muss, die aus der sexuellen Abstinenz stammte und sich mit Hysterie combinirt hatte. Fall III, der Fall der Miss Lucy R., ist vielleicht am ehesten ein Grenzfall von reiner Hysterie zu nennen, es ist eine kurze, episodisch verlaufende Hysterie bei unverkennbar sexueller Aetiologie, wie sie einer Angstneurose entsprechen würde; ein überreifes, liebebedürftiges Mädchen, dessen Neigung zu rasch durch ein Missverständniss erweckt wird. Allein die Angstneurose war nicht nachzuweisen oder ist mir entgangen. Fall IV, Katharina, ist geradezu ein Vorbild dessen, was ich virginale Angst genannt habe; es ist eine Combination von Angstneurose und Hysterie; die erstere schafft die Symptome, die letztere wiederholt sie und arbeitet mit ihnen. Uebrigens ein typischer Fall für soviele, "Hysterie" genannte, jugendliche Neurosen. Fall V, der des Frl. Elisabeth v. R., ist wiederum nicht als Sexualneurose erforscht; einen Verdacht, dass eine Spinalneurasthenie die Grundlage gebildet habe, konnte ich nur äussern und nicht bestätigen. Ich muss aber aus denen die ätiologischen Momente der Neurosen fliessen. Diess lässt sich unschwer im Einzelnen durchführen und erweisen; für die Hysterie folgt aber hieraus, dass es kaum möglich ist, sie für die Betrachtung aus dem Zusammenhange der Sexualneurosen zu reissen; dass sie in der Regel nur eine Seite, einen Aspect des complicirten neurotischen Falles darstellt, und dass sie nur gleichsam im Grenzfall als isolirte Neurose gefunden werden und behandelt werden kann. Man darf etwa in einer Reihe von Fällen sagen: a potiori fit denominatio. Ich will die hier mitgetheilten Krankengeschichten daraufhin prüfen, ob sie meiner Auffassung von der klinischen Unselbständigkeit der Hysterie das Wort reden. Anna O., die Kranke Breuer's, scheint dem zu widersprechen und eine rein hysterische Erkrankung zu erläutern. Allein dieser Fall, der so fruchtbar für die Erkenntniss der Hysterie geworden ist, wurde von seinem Beobachter gar nicht unter den Gesichtspunkt der Sexualneurose gebracht und ist heute einfach für diesen nicht zu verwerthen. Als ich die zweite Kranke, Frau Emmy v. N., zu analysiren begann, lag mir die Erwartung einer Sexualneurose als Boden für die Hysterie ziemlich ferne; ich war frisch aus der Schule Charcot's gekommen und betrachtete die Verknüpfung einer Hysterie mit dem Thema der Sexualität als eine Art von Schimpf – ähnlich wie die Patientinnen selbst es pflegen. Wenn ich heute meine Notizen über diesen Fall überblicke, ist es mir ganz unzweifelhaft, dass ich einen Fall einer schweren Angstneurose mit ängstlicher Erwartung und Phobien anerkennen muss, die aus der sexuellen Abstinenz stammte und sich mit Hysterie combinirt hatte. Fall III, der Fall der Miss Lucy R., ist vielleicht am ehesten ein Grenzfall von reiner Hysterie zu nennen, es ist eine kurze, episodisch verlaufende Hysterie bei unverkennbar sexueller Aetiologie, wie sie einer Angstneurose entsprechen würde; ein überreifes, liebebedürftiges Mädchen, dessen Neigung zu rasch durch ein Missverständniss erweckt wird. Allein die Angstneurose war nicht nachzuweisen oder ist mir entgangen. Fall IV, Katharina, ist geradezu ein Vorbild dessen, was ich virginale Angst genannt habe; es ist eine Combination von Angstneurose und Hysterie; die erstere schafft die Symptome, die letztere wiederholt sie und arbeitet mit ihnen. Uebrigens ein typischer Fall für soviele, „Hysterie“ genannte, jugendliche Neurosen. Fall V, der des Frl. Elisabeth v. R., ist wiederum nicht als Sexualneurose erforscht; einen Verdacht, dass eine Spinalneurasthenie die Grundlage gebildet habe, konnte ich nur äussern und nicht bestätigen. 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Allein dieser Fall, der so fruchtbar für die Erkenntniss der Hysterie geworden ist, wurde von seinem Beobachter gar nicht unter den Gesichtspunkt der Sexualneurose gebracht und ist heute einfach für diesen nicht zu verwerthen. Als ich die zweite Kranke, Frau Emmy v. N., zu analysiren begann, lag mir die Erwartung einer Sexualneurose als Boden für die Hysterie ziemlich ferne; ich war frisch aus der Schule <hi rendition="#g">Charcot's</hi> gekommen und betrachtete die Verknüpfung einer Hysterie mit dem Thema der Sexualität als eine Art von Schimpf – ähnlich wie die Patientinnen selbst es pflegen. Wenn ich heute meine Notizen über diesen Fall überblicke, ist es mir ganz unzweifelhaft, dass ich einen Fall einer schweren Angstneurose mit ängstlicher Erwartung und Phobien anerkennen muss, die aus der sexuellen Abstinenz stammte und sich mit Hysterie combinirt hatte.</p> <p>Fall III, der Fall der Miss Lucy R., ist vielleicht am ehesten ein Grenzfall von reiner Hysterie zu nennen, es ist eine kurze, episodisch verlaufende Hysterie bei unverkennbar sexueller Aetiologie, wie sie einer Angstneurose entsprechen würde; ein überreifes, liebebedürftiges Mädchen, dessen Neigung zu rasch durch ein Missverständniss erweckt wird. Allein die Angstneurose war nicht nachzuweisen oder ist mir entgangen. Fall IV, Katharina, ist geradezu ein Vorbild dessen, was ich virginale Angst genannt habe; es ist eine Combination von Angstneurose und Hysterie; die erstere schafft die Symptome, die letztere wiederholt sie und arbeitet mit ihnen. Uebrigens ein typischer Fall für soviele, „Hysterie“ genannte, jugendliche Neurosen. Fall V, der des Frl. Elisabeth v. R., ist wiederum nicht als Sexualneurose erforscht; einen Verdacht, dass eine Spinalneurasthenie die Grundlage gebildet habe, konnte ich nur äussern und nicht bestätigen. Ich muss aber </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [226/0232]
aus denen die ätiologischen Momente der Neurosen fliessen. Diess lässt sich unschwer im Einzelnen durchführen und erweisen; für die Hysterie folgt aber hieraus, dass es kaum möglich ist, sie für die Betrachtung aus dem Zusammenhange der Sexualneurosen zu reissen; dass sie in der Regel nur eine Seite, einen Aspect des complicirten neurotischen Falles darstellt, und dass sie nur gleichsam im Grenzfall als isolirte Neurose gefunden werden und behandelt werden kann. Man darf etwa in einer Reihe von Fällen sagen: a potiori fit denominatio.
Ich will die hier mitgetheilten Krankengeschichten daraufhin prüfen, ob sie meiner Auffassung von der klinischen Unselbständigkeit der Hysterie das Wort reden. Anna O., die Kranke Breuer's, scheint dem zu widersprechen und eine rein hysterische Erkrankung zu erläutern. Allein dieser Fall, der so fruchtbar für die Erkenntniss der Hysterie geworden ist, wurde von seinem Beobachter gar nicht unter den Gesichtspunkt der Sexualneurose gebracht und ist heute einfach für diesen nicht zu verwerthen. Als ich die zweite Kranke, Frau Emmy v. N., zu analysiren begann, lag mir die Erwartung einer Sexualneurose als Boden für die Hysterie ziemlich ferne; ich war frisch aus der Schule Charcot's gekommen und betrachtete die Verknüpfung einer Hysterie mit dem Thema der Sexualität als eine Art von Schimpf – ähnlich wie die Patientinnen selbst es pflegen. Wenn ich heute meine Notizen über diesen Fall überblicke, ist es mir ganz unzweifelhaft, dass ich einen Fall einer schweren Angstneurose mit ängstlicher Erwartung und Phobien anerkennen muss, die aus der sexuellen Abstinenz stammte und sich mit Hysterie combinirt hatte.
Fall III, der Fall der Miss Lucy R., ist vielleicht am ehesten ein Grenzfall von reiner Hysterie zu nennen, es ist eine kurze, episodisch verlaufende Hysterie bei unverkennbar sexueller Aetiologie, wie sie einer Angstneurose entsprechen würde; ein überreifes, liebebedürftiges Mädchen, dessen Neigung zu rasch durch ein Missverständniss erweckt wird. Allein die Angstneurose war nicht nachzuweisen oder ist mir entgangen. Fall IV, Katharina, ist geradezu ein Vorbild dessen, was ich virginale Angst genannt habe; es ist eine Combination von Angstneurose und Hysterie; die erstere schafft die Symptome, die letztere wiederholt sie und arbeitet mit ihnen. Uebrigens ein typischer Fall für soviele, „Hysterie“ genannte, jugendliche Neurosen. Fall V, der des Frl. Elisabeth v. R., ist wiederum nicht als Sexualneurose erforscht; einen Verdacht, dass eine Spinalneurasthenie die Grundlage gebildet habe, konnte ich nur äussern und nicht bestätigen. Ich muss aber
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