Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

selten gerade auf dem Gebiete des Geschlechtslebens, infolge der grossen Schwankungen in der Intensität des sexuellen Bedürfnisses und der Complication der für ein sexuelles Trauma erforderten Bedingungen. Hier leistet die kathartische Methode alles, was man ihr zur Aufgabe stellen kann, denn der Arzt kann sich nicht vorsetzen wollen, eine Constitution wie die hysterische zu ändern; er muss sich damit bescheiden, wenn er das Leiden beseitigt, zu dem eine solche Constitution geneigt ist, und das unter Mithilfe äusserer Bedingungen aus ihr entspringen kann. Er wird zufrieden sein, wenn die Kranke wieder leistungsfähig geworden ist. Uebrigens entbehrt er auch eines Trostes für die Zukunft nicht, wenn er die Möglichkeit der Recidive in Betracht zieht. Er kennt den Hauptcharakter in der Aetiologie der Neurosen, dass deren Entstehung zumeist überdeterminirt ist, dass mehrere Momente zu dieser Wirkung zusammentreten müssen; er darf hoffen, dass dieses Zusammentreffen nicht sobald wieder statthaben wird, wenn auch einzelne der ätiologischen Momente in Wirksamkeit geblieben sind.

Man könnte einwenden, dass in solchen abgelaufenen Fällen von Hysterie die restirenden Symptome ohnediess spontan vergehen; allein hierauf darf man antworten, dass solche Spontanheilung sehr häufig weder rasch noch vollständig genug abläuft, und dass sie durch das Eingreifen der Therapie ausserordentlich gefördert werden kann. Ob man mit der kathartischen Therapie nur das heilt, was der Spontanheilung fähig ist, oder gelegentlich auch anderes, was sich spontan nicht gelöst hätte, das darf man für jetzt gerne ungeschlichtet lassen.

4. Wo man auf eine acute Hysterie gestossen ist, einen Fall in der Periode lebhaftester Production von hysterischen Symptomen und consecutiver Ueberwältigung des Ich durch die Krankheitsproducte (hysterische Psychose), da wird auch die kathartische Methode am Eindruck und Verlauf des Krankheitsfalles wenig ändern. Man befindet sich dann wohl in derselben Stellung gegen die Neurose, welche der Arzt gegen eine acute Infectionskrankheit einnimmt. Die ätiologischen Momente haben zu einer verflossenen, jetzt der Beeinflussung entzogenen Zeit ihre Wirkung im genügenden Ausmaasse geübt, nun werden dieselben nach Ueberwindung des Incubationsintervalles manifest; die Affection lässt sich nicht abbrechen; man muss ihren Ablauf abwarten und unterdess die günstigsten Bedingungen für den Kranken herstellen. Beseitigt man nun während einer solchen acuten Periode die Krankheitsproducte, die neu entstandenen hysterischen Symptome, so darf

selten gerade auf dem Gebiete des Geschlechtslebens, infolge der grossen Schwankungen in der Intensität des sexuellen Bedürfnisses und der Complication der für ein sexuelles Trauma erforderten Bedingungen. Hier leistet die kathartische Methode alles, was man ihr zur Aufgabe stellen kann, denn der Arzt kann sich nicht vorsetzen wollen, eine Constitution wie die hysterische zu ändern; er muss sich damit bescheiden, wenn er das Leiden beseitigt, zu dem eine solche Constitution geneigt ist, und das unter Mithilfe äusserer Bedingungen aus ihr entspringen kann. Er wird zufrieden sein, wenn die Kranke wieder leistungsfähig geworden ist. Uebrigens entbehrt er auch eines Trostes für die Zukunft nicht, wenn er die Möglichkeit der Recidive in Betracht zieht. Er kennt den Hauptcharakter in der Aetiologie der Neurosen, dass deren Entstehung zumeist überdeterminirt ist, dass mehrere Momente zu dieser Wirkung zusammentreten müssen; er darf hoffen, dass dieses Zusammentreffen nicht sobald wieder statthaben wird, wenn auch einzelne der ätiologischen Momente in Wirksamkeit geblieben sind.

Man könnte einwenden, dass in solchen abgelaufenen Fällen von Hysterie die restirenden Symptome ohnediess spontan vergehen; allein hierauf darf man antworten, dass solche Spontanheilung sehr häufig weder rasch noch vollständig genug abläuft, und dass sie durch das Eingreifen der Therapie ausserordentlich gefördert werden kann. Ob man mit der kathartischen Therapie nur das heilt, was der Spontanheilung fähig ist, oder gelegentlich auch anderes, was sich spontan nicht gelöst hätte, das darf man für jetzt gerne ungeschlichtet lassen.

4. Wo man auf eine acute Hysterie gestossen ist, einen Fall in der Periode lebhaftester Production von hysterischen Symptomen und consecutiver Ueberwältigung des Ich durch die Krankheitsproducte (hysterische Psychose), da wird auch die kathartische Methode am Eindruck und Verlauf des Krankheitsfalles wenig ändern. Man befindet sich dann wohl in derselben Stellung gegen die Neurose, welche der Arzt gegen eine acute Infectionskrankheit einnimmt. Die ätiologischen Momente haben zu einer verflossenen, jetzt der Beeinflussung entzogenen Zeit ihre Wirkung im genügenden Ausmaasse geübt, nun werden dieselben nach Ueberwindung des Incubationsintervalles manifest; die Affection lässt sich nicht abbrechen; man muss ihren Ablauf abwarten und unterdess die günstigsten Bedingungen für den Kranken herstellen. Beseitigt man nun während einer solchen acuten Periode die Krankheitsproducte, die neu entstandenen hysterischen Symptome, so darf

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0235" n="229"/>
selten gerade auf dem Gebiete des Geschlechtslebens, infolge der grossen Schwankungen in der Intensität des sexuellen Bedürfnisses und der Complication der für ein sexuelles Trauma erforderten Bedingungen. Hier leistet die kathartische Methode alles, was man ihr zur Aufgabe stellen kann, denn der Arzt kann sich nicht vorsetzen wollen, eine Constitution wie die hysterische zu ändern; er muss sich damit bescheiden, wenn er das Leiden beseitigt, zu dem eine solche Constitution geneigt ist, und das unter Mithilfe äusserer Bedingungen aus ihr entspringen kann. Er wird zufrieden sein, wenn die Kranke wieder leistungsfähig geworden ist. Uebrigens entbehrt er auch eines Trostes für die Zukunft nicht, wenn er die Möglichkeit der Recidive in Betracht zieht. Er kennt den Hauptcharakter in der Aetiologie der Neurosen, dass deren Entstehung zumeist <hi rendition="#g">überdeterminirt</hi> ist, dass mehrere Momente zu dieser Wirkung zusammentreten müssen; er darf hoffen, dass dieses Zusammentreffen nicht sobald wieder statthaben wird, wenn auch einzelne der ätiologischen Momente in Wirksamkeit geblieben sind.</p>
          <p>Man könnte einwenden, dass in solchen abgelaufenen Fällen von Hysterie die restirenden Symptome ohnediess spontan vergehen; allein hierauf darf man antworten, dass solche Spontanheilung sehr häufig weder rasch noch vollständig genug abläuft, und dass sie durch das Eingreifen der Therapie ausserordentlich gefördert werden kann. Ob man mit der kathartischen Therapie nur das heilt, was der Spontanheilung fähig ist, oder gelegentlich auch anderes, was sich spontan nicht gelöst hätte, das darf man für jetzt gerne ungeschlichtet lassen.</p>
          <p>4. Wo man auf eine acute Hysterie gestossen ist, einen Fall in der Periode lebhaftester Production von hysterischen Symptomen und consecutiver Ueberwältigung des Ich durch die Krankheitsproducte (hysterische Psychose), da wird auch die kathartische Methode am Eindruck und Verlauf des Krankheitsfalles wenig ändern. Man befindet sich dann wohl in derselben Stellung gegen die Neurose, welche der Arzt gegen eine acute Infectionskrankheit einnimmt. Die ätiologischen Momente haben zu einer verflossenen, jetzt der Beeinflussung entzogenen Zeit ihre Wirkung im genügenden Ausmaasse geübt, nun werden dieselben nach Ueberwindung des Incubationsintervalles manifest; die Affection lässt sich nicht abbrechen; man muss ihren Ablauf abwarten und unterdess die günstigsten Bedingungen für den Kranken herstellen. Beseitigt man nun während einer solchen acuten Periode die Krankheitsproducte, die neu entstandenen hysterischen Symptome, so darf
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[229/0235] selten gerade auf dem Gebiete des Geschlechtslebens, infolge der grossen Schwankungen in der Intensität des sexuellen Bedürfnisses und der Complication der für ein sexuelles Trauma erforderten Bedingungen. Hier leistet die kathartische Methode alles, was man ihr zur Aufgabe stellen kann, denn der Arzt kann sich nicht vorsetzen wollen, eine Constitution wie die hysterische zu ändern; er muss sich damit bescheiden, wenn er das Leiden beseitigt, zu dem eine solche Constitution geneigt ist, und das unter Mithilfe äusserer Bedingungen aus ihr entspringen kann. Er wird zufrieden sein, wenn die Kranke wieder leistungsfähig geworden ist. Uebrigens entbehrt er auch eines Trostes für die Zukunft nicht, wenn er die Möglichkeit der Recidive in Betracht zieht. Er kennt den Hauptcharakter in der Aetiologie der Neurosen, dass deren Entstehung zumeist überdeterminirt ist, dass mehrere Momente zu dieser Wirkung zusammentreten müssen; er darf hoffen, dass dieses Zusammentreffen nicht sobald wieder statthaben wird, wenn auch einzelne der ätiologischen Momente in Wirksamkeit geblieben sind. Man könnte einwenden, dass in solchen abgelaufenen Fällen von Hysterie die restirenden Symptome ohnediess spontan vergehen; allein hierauf darf man antworten, dass solche Spontanheilung sehr häufig weder rasch noch vollständig genug abläuft, und dass sie durch das Eingreifen der Therapie ausserordentlich gefördert werden kann. Ob man mit der kathartischen Therapie nur das heilt, was der Spontanheilung fähig ist, oder gelegentlich auch anderes, was sich spontan nicht gelöst hätte, das darf man für jetzt gerne ungeschlichtet lassen. 4. Wo man auf eine acute Hysterie gestossen ist, einen Fall in der Periode lebhaftester Production von hysterischen Symptomen und consecutiver Ueberwältigung des Ich durch die Krankheitsproducte (hysterische Psychose), da wird auch die kathartische Methode am Eindruck und Verlauf des Krankheitsfalles wenig ändern. Man befindet sich dann wohl in derselben Stellung gegen die Neurose, welche der Arzt gegen eine acute Infectionskrankheit einnimmt. Die ätiologischen Momente haben zu einer verflossenen, jetzt der Beeinflussung entzogenen Zeit ihre Wirkung im genügenden Ausmaasse geübt, nun werden dieselben nach Ueberwindung des Incubationsintervalles manifest; die Affection lässt sich nicht abbrechen; man muss ihren Ablauf abwarten und unterdess die günstigsten Bedingungen für den Kranken herstellen. Beseitigt man nun während einer solchen acuten Periode die Krankheitsproducte, die neu entstandenen hysterischen Symptome, so darf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/235
Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/235>, abgerufen am 21.11.2024.