Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.1. den in monotonem Familienleben und ohne entsprechende geistige Arbeit unverwendeten Ueberschuss von psychischer Regsamkeit und Energie, der sich in fortwährendem Arbeiten der Phantasie entladet und 2. das habituelle Wachträumen ("Privattheater") erzeugt, womit der Grund gelegt wird zur Dissociation der geistigen Persönlichkeit. Immerhin bleibt auch diese noch in den Grenzen des Normalen; Träumerei, wie Meditation während einen mehr minder mechanischen Beschäftigung bedingt an sich noch keine pathologische Spaltung des Bewusstseins, weil jede Störung darin, jeder Anruf z. B., die normale Einheit desselben wieder herstellt und wohl auch keine Amnesie besteht. Doch wurde dadurch bei Anna O . . der Boden geschaffen, auf dem in der geschilderten Weise der Angst- und Erwartungsaffect sich festsetzte, nachdem er einmal die habituelle Träumerei in eine hallucinatorische Absence ungeschaffen hatte. Es ist merkwürdig, wie vollkommen in dieser ersten Manifestation der beginnenden Erkrankung schon die Hauptzüge auftreten, welche dann durch fast 2 Jahre constant bleiben: die Existenz eines 2. Bewusstseinszustandes, der sich, zuerst als vorübergehende Absence auftretend, später zur double conscience organisirt; die Sprachhemmung, bedingt durch den Angstaffect, mit der zufälligen Entladung durch einen englischen Kindervers; später Paraphasie und Verlust der Muttersprache, die durch vortreffliches Englisch ersetzt wird; endlich die zufällige Drucklähmung des rechten Armes, welche sich später zur rechtseitigen Contracturparese und Anästhesie entwickelt. Der Entstehungsmechanismus dieser letztern Affection entspricht vollständig der Charcot'schen Theorie von der traumatischen Hysterie: hypnotischer Zustand, in welchem ein leichtes Trauma erfolgt. Aber während bei den Kranken, an welchen Charcot die hysterische Lähmung experimentell erzeugte, diese alsbald stabilisirt bleibt, und bei den durch ein schweres Schreck-Trauma erschütterten Trägern traumatischer Neurosen sich bald einstellt, leistete das Nervensystem unseres jungen Mädchens noch durch 4 Monate erfolgreichen Widerstand. Die Contractur, wie die andern, allmählich sich dazu gesellenden Störungen traten nur in den momentanen Absencen, in der "condition seconde" ein und liessen Patientin während des normalen Zustandes im Vollbesitze ihres Körpers und ihrer Sinne, so dass weder sie selbst etwas davon wusste, noch die Umgebung etwas sah, deren Aufmerksamkeit 1. den in monotonem Familienleben und ohne entsprechende geistige Arbeit unverwendeten Ueberschuss von psychischer Regsamkeit und Energie, der sich in fortwährendem Arbeiten der Phantasie entladet und 2. das habituelle Wachträumen („Privattheater“) erzeugt, womit der Grund gelegt wird zur Dissociation der geistigen Persönlichkeit. Immerhin bleibt auch diese noch in den Grenzen des Normalen; Träumerei, wie Meditation während einen mehr minder mechanischen Beschäftigung bedingt an sich noch keine pathologische Spaltung des Bewusstseins, weil jede Störung darin, jeder Anruf z. B., die normale Einheit desselben wieder herstellt und wohl auch keine Amnesie besteht. Doch wurde dadurch bei Anna O . . der Boden geschaffen, auf dem in der geschilderten Weise der Angst- und Erwartungsaffect sich festsetzte, nachdem er einmal die habituelle Träumerei in eine hallucinatorische Absence ungeschaffen hatte. Es ist merkwürdig, wie vollkommen in dieser ersten Manifestation der beginnenden Erkrankung schon die Hauptzüge auftreten, welche dann durch fast 2 Jahre constant bleiben: die Existenz eines 2. Bewusstseinszustandes, der sich, zuerst als vorübergehende Absence auftretend, später zur double conscience organisirt; die Sprachhemmung, bedingt durch den Angstaffect, mit der zufälligen Entladung durch einen englischen Kindervers; später Paraphasie und Verlust der Muttersprache, die durch vortreffliches Englisch ersetzt wird; endlich die zufällige Drucklähmung des rechten Armes, welche sich später zur rechtseitigen Contracturparese und Anästhesie entwickelt. Der Entstehungsmechanismus dieser letztern Affection entspricht vollständig der Charcot’schen Theorie von der traumatischen Hysterie: hypnotischer Zustand, in welchem ein leichtes Trauma erfolgt. Aber während bei den Kranken, an welchen Charcot die hysterische Lähmung experimentell erzeugte, diese alsbald stabilisirt bleibt, und bei den durch ein schweres Schreck-Trauma erschütterten Trägern traumatischer Neurosen sich bald einstellt, leistete das Nervensystem unseres jungen Mädchens noch durch 4 Monate erfolgreichen Widerstand. Die Contractur, wie die andern, allmählich sich dazu gesellenden Störungen traten nur in den momentanen Absencen, in der „condition seconde“ ein und liessen Patientin während des normalen Zustandes im Vollbesitze ihres Körpers und ihrer Sinne, so dass weder sie selbst etwas davon wusste, noch die Umgebung etwas sah, deren Aufmerksamkeit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0039" n="33"/> <p>1. den in monotonem Familienleben und ohne entsprechende geistige Arbeit unverwendeten Ueberschuss von psychischer Regsamkeit und Energie, der sich in fortwährendem Arbeiten der Phantasie entladet und</p> <p>2. das habituelle Wachträumen („Privattheater“) erzeugt, womit der Grund gelegt wird zur Dissociation der geistigen Persönlichkeit. Immerhin bleibt auch diese noch in den Grenzen des Normalen; Träumerei, wie Meditation während einen mehr minder mechanischen Beschäftigung bedingt an sich noch keine pathologische Spaltung des Bewusstseins, weil jede Störung darin, jeder Anruf z. B., die normale Einheit desselben wieder herstellt und wohl auch keine Amnesie besteht. Doch wurde dadurch bei Anna O . . der Boden geschaffen, auf dem in der geschilderten Weise der Angst- und Erwartungsaffect sich festsetzte, nachdem er einmal die habituelle Träumerei in eine hallucinatorische Absence ungeschaffen hatte. Es ist merkwürdig, wie vollkommen in dieser ersten Manifestation der beginnenden Erkrankung schon die Hauptzüge auftreten, welche dann durch fast 2 Jahre constant bleiben: die Existenz eines 2. Bewusstseinszustandes, der sich, zuerst als vorübergehende Absence auftretend, später zur double conscience organisirt; die Sprachhemmung, bedingt durch den Angstaffect, mit der zufälligen Entladung durch einen englischen Kindervers; später Paraphasie und Verlust der Muttersprache, die durch vortreffliches Englisch ersetzt wird; endlich die zufällige Drucklähmung des rechten Armes, welche sich später zur rechtseitigen Contracturparese und Anästhesie entwickelt. Der Entstehungsmechanismus dieser letztern Affection entspricht vollständig der <hi rendition="#g">Charcot</hi>’schen Theorie von der traumatischen Hysterie: hypnotischer Zustand, in welchem ein leichtes Trauma erfolgt.</p> <p>Aber während bei den Kranken, an welchen <hi rendition="#g">Charcot</hi> die hysterische Lähmung experimentell erzeugte, diese alsbald stabilisirt bleibt, und bei den durch ein schweres Schreck-Trauma erschütterten Trägern traumatischer Neurosen sich bald einstellt, leistete das Nervensystem unseres jungen Mädchens noch durch 4 Monate erfolgreichen Widerstand. Die Contractur, wie die andern, allmählich sich dazu gesellenden Störungen traten nur in den momentanen Absencen, in der „condition seconde“ ein und liessen Patientin während des normalen Zustandes im Vollbesitze ihres Körpers und ihrer Sinne, so dass weder sie selbst etwas davon wusste, noch die Umgebung etwas sah, deren Aufmerksamkeit </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [33/0039]
1. den in monotonem Familienleben und ohne entsprechende geistige Arbeit unverwendeten Ueberschuss von psychischer Regsamkeit und Energie, der sich in fortwährendem Arbeiten der Phantasie entladet und
2. das habituelle Wachträumen („Privattheater“) erzeugt, womit der Grund gelegt wird zur Dissociation der geistigen Persönlichkeit. Immerhin bleibt auch diese noch in den Grenzen des Normalen; Träumerei, wie Meditation während einen mehr minder mechanischen Beschäftigung bedingt an sich noch keine pathologische Spaltung des Bewusstseins, weil jede Störung darin, jeder Anruf z. B., die normale Einheit desselben wieder herstellt und wohl auch keine Amnesie besteht. Doch wurde dadurch bei Anna O . . der Boden geschaffen, auf dem in der geschilderten Weise der Angst- und Erwartungsaffect sich festsetzte, nachdem er einmal die habituelle Träumerei in eine hallucinatorische Absence ungeschaffen hatte. Es ist merkwürdig, wie vollkommen in dieser ersten Manifestation der beginnenden Erkrankung schon die Hauptzüge auftreten, welche dann durch fast 2 Jahre constant bleiben: die Existenz eines 2. Bewusstseinszustandes, der sich, zuerst als vorübergehende Absence auftretend, später zur double conscience organisirt; die Sprachhemmung, bedingt durch den Angstaffect, mit der zufälligen Entladung durch einen englischen Kindervers; später Paraphasie und Verlust der Muttersprache, die durch vortreffliches Englisch ersetzt wird; endlich die zufällige Drucklähmung des rechten Armes, welche sich später zur rechtseitigen Contracturparese und Anästhesie entwickelt. Der Entstehungsmechanismus dieser letztern Affection entspricht vollständig der Charcot’schen Theorie von der traumatischen Hysterie: hypnotischer Zustand, in welchem ein leichtes Trauma erfolgt.
Aber während bei den Kranken, an welchen Charcot die hysterische Lähmung experimentell erzeugte, diese alsbald stabilisirt bleibt, und bei den durch ein schweres Schreck-Trauma erschütterten Trägern traumatischer Neurosen sich bald einstellt, leistete das Nervensystem unseres jungen Mädchens noch durch 4 Monate erfolgreichen Widerstand. Die Contractur, wie die andern, allmählich sich dazu gesellenden Störungen traten nur in den momentanen Absencen, in der „condition seconde“ ein und liessen Patientin während des normalen Zustandes im Vollbesitze ihres Körpers und ihrer Sinne, so dass weder sie selbst etwas davon wusste, noch die Umgebung etwas sah, deren Aufmerksamkeit
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2012-10-26T10:30:31Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat.
(2012-10-26T10:30:31Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |