Friedrich II., König von Preußen: Über die deutsche Literatur. Übers. v. Christian Konrad Wilhelm Dohm. Berlin, 1780.diesen Regeln, um den Standpunkt, in welchem wir zweifle
dieſen Regeln, um den Standpunkt, in welchem wir zweifle
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0012" n="6"/> dieſen Regeln, um den Standpunkt, in welchem wir<lb/> uns itzt wirklich befinden, mit Billigkeit zu beſtim-<lb/> men; ich befreye mich von allen Vorurtheilen und laſ-<lb/> ſe mich blos von der Wahrheit leiten. Und nun finde<lb/> ich eine noch halb-barbariſche Sprache, in ſo viele ver-<lb/> ſchiedene Dialekte vertheilt, als <placeName>Deutſchland</placeName> Provin-<lb/> zen hat. Jeder Kreiß haͤlt ſich uͤberzeugt, ſeine Sprache<lb/> ſey die wahre aͤchte und deutſche. Wir beſitzen noch<lb/> keine von der ganzen Nation gebilligte Sammlung,<lb/> in der man alle Worte und Redensarten faͤnde, nach<lb/> denen man die Reinigkeit der Sprache ſicher beurthei-<lb/> len koͤnnte. Was man in <placeName>Schwaben</placeName> ſchreibt, iſt in<lb/><placeName>Hamburg</placeName> kaum verſtaͤndlich; und der oͤſterreichiſche<lb/> Styl iſt fuͤr die Sachſen dunkel. Es iſt alſo phyſiſch<lb/> unmoͤglich daß auch ein Schriftſteller von dem groͤß-<lb/> ten Geiſt, dieſe noch ungebildete Sprache vortrefflich<lb/> behandeln koͤnne. Verlangt man vom <hi rendition="#fr"><persName>Phidias</persName></hi> eine<lb/><hi rendition="#fr">Venus</hi> von Gnidus; ſo muß man ihm einen Marmor<lb/> ohne Fehler, feine Meißel und gute Grabſtichel geben.<lb/> Nur dann darf man von ſeiner Arbeit etwas erwarten;<lb/> aber ohne Werkzeuge laͤßt ſich kein Kuͤnſtler denken.<lb/> Man koͤnnte mir vielleicht den Einwurf machen, daß<lb/> auch die griechiſchen Republiken ehemals eben ſo viele<lb/> verſchiedene Dialekte hatten, als wir; und daß man<lb/> noch itzt das Vaterland eines Italiaͤners an ſeinem<lb/> Styl und ſeiner Ausſprache erkennen koͤnne, die immer<lb/> in einem Lande anders ſind, als in dem andern. Ich<lb/> <fw place="bottom" type="catch">zweifle</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [6/0012]
dieſen Regeln, um den Standpunkt, in welchem wir
uns itzt wirklich befinden, mit Billigkeit zu beſtim-
men; ich befreye mich von allen Vorurtheilen und laſ-
ſe mich blos von der Wahrheit leiten. Und nun finde
ich eine noch halb-barbariſche Sprache, in ſo viele ver-
ſchiedene Dialekte vertheilt, als Deutſchland Provin-
zen hat. Jeder Kreiß haͤlt ſich uͤberzeugt, ſeine Sprache
ſey die wahre aͤchte und deutſche. Wir beſitzen noch
keine von der ganzen Nation gebilligte Sammlung,
in der man alle Worte und Redensarten faͤnde, nach
denen man die Reinigkeit der Sprache ſicher beurthei-
len koͤnnte. Was man in Schwaben ſchreibt, iſt in
Hamburg kaum verſtaͤndlich; und der oͤſterreichiſche
Styl iſt fuͤr die Sachſen dunkel. Es iſt alſo phyſiſch
unmoͤglich daß auch ein Schriftſteller von dem groͤß-
ten Geiſt, dieſe noch ungebildete Sprache vortrefflich
behandeln koͤnne. Verlangt man vom Phidias eine
Venus von Gnidus; ſo muß man ihm einen Marmor
ohne Fehler, feine Meißel und gute Grabſtichel geben.
Nur dann darf man von ſeiner Arbeit etwas erwarten;
aber ohne Werkzeuge laͤßt ſich kein Kuͤnſtler denken.
Man koͤnnte mir vielleicht den Einwurf machen, daß
auch die griechiſchen Republiken ehemals eben ſo viele
verſchiedene Dialekte hatten, als wir; und daß man
noch itzt das Vaterland eines Italiaͤners an ſeinem
Styl und ſeiner Ausſprache erkennen koͤnne, die immer
in einem Lande anders ſind, als in dem andern. Ich
zweifle
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