denn das Bild mahlet sich den ersten Tag aufs Auge, wie es sich den letzten des Lebens mahlen wird; aber die Seele durch den Sinn lernt messen, vergleichen, geistig empfinden." -- Größe, Entfernung u. s. w. sind bloße beziehungsbegriffe, und sie sind gewiß in je- dem Wesen auf eine andere Art wirklich. Der Meve, die in einem Nachmittag 200 Stunden spazieren fliegt, muß diese Strecke etwan so weit, wie der Schnecke einige Schritte vorkommen. Beym Ausmessen der Grö- ße macht jedesmal das Kind sich selbst zum Maaßstab; daher scheint ihm sein väterliches Haus, welches es sich während einer mehrjährigen Entfernung immer nach seinen ersten Begriffen vorstellte, bey seiner An- kunft so eng, so nieder: denn das ganze Verhält- niß zwischen ihm und dem Hause ist verändert. Es ist folglich sehr schwer zu bestimmen, in wie fern wir je- mals von einer Sache ächte Begriffe haben; beson- ders da wir nur in sofern davon urtheilen können, als sie in die 3-4-5 Sinne fällt. -- Wahrscheinlich ver- hält sich da die Seele gröstentheils leidend; denn auch daß die Seele durch die Sinne messen, vergleichen und geistig empfinden lerne, kann ich deßwegen nicht zugeben, weil jede Seele bey vollkommenen Sinnen alsogleich vollkommen sieht, hört, schmeckt, riecht, und fühlt, wie wir es bisher in so vielen Beyspielen gesehen haben. Denen der Staar operirt wird, scheint es zwar, die Gegenstände berührten das Aug unmit- telbar; allein, man weiß, daß sich alle unsere Gefüh- le nach den herrschenden richten, und dieses so sehr, daß schwächere Gefühle bei obwaltenden stärkern ent-
weder
denn das Bild mahlet ſich den erſten Tag aufs Auge, wie es ſich den letzten des Lebens mahlen wird; aber die Seele durch den Sinn lernt meſſen, vergleichen, geiſtig empfinden.„ — Groͤße, Entfernung u. ſ. w. ſind bloße beziehungsbegriffe, und ſie ſind gewiß in je- dem Weſen auf eine andere Art wirklich. Der Meve, die in einem Nachmittag 200 Stunden ſpazieren fliegt, muß dieſe Strecke etwan ſo weit, wie der Schnecke einige Schritte vorkommen. Beym Ausmeſſen der Groͤ- ße macht jedesmal das Kind ſich ſelbſt zum Maaßſtab; daher ſcheint ihm ſein vaͤterliches Haus, welches es ſich waͤhrend einer mehrjaͤhrigen Entfernung immer nach ſeinen erſten Begriffen vorſtellte, bey ſeiner An- kunft ſo eng, ſo nieder: denn das ganze Verhaͤlt- niß zwiſchen ihm und dem Hauſe iſt veraͤndert. Es iſt folglich ſehr ſchwer zu beſtimmen, in wie fern wir je- mals von einer Sache aͤchte Begriffe haben; beſon- ders da wir nur in ſofern davon urtheilen koͤnnen, als ſie in die 3-4-5 Sinne faͤllt. — Wahrſcheinlich ver- haͤlt ſich da die Seele groͤſtentheils leidend; denn auch daß die Seele durch die Sinne meſſen, vergleichen und geiſtig empfinden lerne, kann ich deßwegen nicht zugeben, weil jede Seele bey vollkommenen Sinnen alſogleich vollkommen ſieht, hoͤrt, ſchmeckt, riecht, und fuͤhlt, wie wir es bisher in ſo vielen Beyſpielen geſehen haben. Denen der Staar operirt wird, ſcheint es zwar, die Gegenſtaͤnde beruͤhrten das Aug unmit- telbar; allein, man weiß, daß ſich alle unſere Gefuͤh- le nach den herrſchenden richten, und dieſes ſo ſehr, daß ſchwaͤchere Gefuͤhle bei obwaltenden ſtaͤrkern ent-
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denn das Bild mahlet ſich den erſten Tag aufs Auge,
wie es ſich den letzten des Lebens mahlen wird; aber
die Seele durch den Sinn lernt meſſen, vergleichen,
geiſtig empfinden.„ — Groͤße, Entfernung u. ſ. w.
ſind bloße beziehungsbegriffe, und ſie ſind gewiß in je-
dem Weſen auf eine andere Art wirklich. Der Meve,
die in einem Nachmittag 200 Stunden ſpazieren fliegt,
muß dieſe Strecke etwan ſo weit, wie der Schnecke
einige Schritte vorkommen. Beym Ausmeſſen der Groͤ-
ße macht jedesmal das Kind ſich ſelbſt zum Maaßſtab;
daher ſcheint ihm ſein vaͤterliches Haus, welches es
ſich waͤhrend einer mehrjaͤhrigen Entfernung immer
nach ſeinen erſten Begriffen vorſtellte, bey ſeiner An-
kunft ſo eng, ſo nieder: denn das ganze Verhaͤlt-
niß zwiſchen ihm und dem Hauſe iſt veraͤndert. Es iſt
folglich ſehr ſchwer zu beſtimmen, in wie fern wir je-
mals von einer Sache aͤchte Begriffe haben; beſon-
ders da wir nur in ſofern davon urtheilen koͤnnen,
als ſie in die 3-4-5 Sinne faͤllt. — Wahrſcheinlich ver-
haͤlt ſich da die Seele groͤſtentheils leidend; denn auch
daß die Seele durch die Sinne meſſen, vergleichen
und geiſtig empfinden lerne, kann ich deßwegen nicht
zugeben, weil jede Seele bey vollkommenen Sinnen
alſogleich vollkommen ſieht, hoͤrt, ſchmeckt, riecht,
und fuͤhlt, wie wir es bisher in ſo vielen Beyſpielen
geſehen haben. Denen der Staar operirt wird, ſcheint
es zwar, die Gegenſtaͤnde beruͤhrten das Aug unmit-
telbar; allein, man weiß, daß ſich alle unſere Gefuͤh-
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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/144>, abgerufen am 21.11.2024.
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