Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

denn das Bild mahlet sich den ersten Tag aufs Auge,
wie es sich den letzten des Lebens mahlen wird; aber
die Seele durch den Sinn lernt messen, vergleichen,
geistig empfinden." -- Größe, Entfernung u. s. w.
sind bloße beziehungsbegriffe, und sie sind gewiß in je-
dem Wesen auf eine andere Art wirklich. Der Meve,
die in einem Nachmittag 200 Stunden spazieren fliegt,
muß diese Strecke etwan so weit, wie der Schnecke
einige Schritte vorkommen. Beym Ausmessen der Grö-
ße macht jedesmal das Kind sich selbst zum Maaßstab;
daher scheint ihm sein väterliches Haus, welches es
sich während einer mehrjährigen Entfernung immer
nach seinen ersten Begriffen vorstellte, bey seiner An-
kunft so eng, so nieder: denn das ganze Verhält-
niß zwischen ihm und dem Hause ist verändert. Es ist
folglich sehr schwer zu bestimmen, in wie fern wir je-
mals von einer Sache ächte Begriffe haben; beson-
ders da wir nur in sofern davon urtheilen können,
als sie in die 3-4-5 Sinne fällt. -- Wahrscheinlich ver-
hält sich da die Seele gröstentheils leidend; denn auch
daß die Seele durch die Sinne messen, vergleichen
und geistig empfinden lerne, kann ich deßwegen nicht
zugeben, weil jede Seele bey vollkommenen Sinnen
alsogleich vollkommen sieht, hört, schmeckt, riecht,
und fühlt, wie wir es bisher in so vielen Beyspielen
gesehen haben. Denen der Staar operirt wird, scheint
es zwar, die Gegenstände berührten das Aug unmit-
telbar; allein, man weiß, daß sich alle unsere Gefüh-
le nach den herrschenden richten, und dieses so sehr,
daß schwächere Gefühle bei obwaltenden stärkern ent-

weder

denn das Bild mahlet ſich den erſten Tag aufs Auge,
wie es ſich den letzten des Lebens mahlen wird; aber
die Seele durch den Sinn lernt meſſen, vergleichen,
geiſtig empfinden.„ — Groͤße, Entfernung u. ſ. w.
ſind bloße beziehungsbegriffe, und ſie ſind gewiß in je-
dem Weſen auf eine andere Art wirklich. Der Meve,
die in einem Nachmittag 200 Stunden ſpazieren fliegt,
muß dieſe Strecke etwan ſo weit, wie der Schnecke
einige Schritte vorkommen. Beym Ausmeſſen der Groͤ-
ße macht jedesmal das Kind ſich ſelbſt zum Maaßſtab;
daher ſcheint ihm ſein vaͤterliches Haus, welches es
ſich waͤhrend einer mehrjaͤhrigen Entfernung immer
nach ſeinen erſten Begriffen vorſtellte, bey ſeiner An-
kunft ſo eng, ſo nieder: denn das ganze Verhaͤlt-
niß zwiſchen ihm und dem Hauſe iſt veraͤndert. Es iſt
folglich ſehr ſchwer zu beſtimmen, in wie fern wir je-
mals von einer Sache aͤchte Begriffe haben; beſon-
ders da wir nur in ſofern davon urtheilen koͤnnen,
als ſie in die 3-4-5 Sinne faͤllt. — Wahrſcheinlich ver-
haͤlt ſich da die Seele groͤſtentheils leidend; denn auch
daß die Seele durch die Sinne meſſen, vergleichen
und geiſtig empfinden lerne, kann ich deßwegen nicht
zugeben, weil jede Seele bey vollkommenen Sinnen
alſogleich vollkommen ſieht, hoͤrt, ſchmeckt, riecht,
und fuͤhlt, wie wir es bisher in ſo vielen Beyſpielen
geſehen haben. Denen der Staar operirt wird, ſcheint
es zwar, die Gegenſtaͤnde beruͤhrten das Aug unmit-
telbar; allein, man weiß, daß ſich alle unſere Gefuͤh-
le nach den herrſchenden richten, und dieſes ſo ſehr,
daß ſchwaͤchere Gefuͤhle bei obwaltenden ſtaͤrkern ent-

weder
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0144" n="125"/>
denn das Bild mahlet &#x017F;ich den er&#x017F;ten Tag aufs Auge,<lb/>
wie es &#x017F;ich den letzten des Lebens mahlen wird; aber<lb/>
die Seele durch den Sinn lernt me&#x017F;&#x017F;en, vergleichen,<lb/>
gei&#x017F;tig empfinden.&#x201E; &#x2014; Gro&#x0364;ße, Entfernung u. &#x017F;. w.<lb/>
&#x017F;ind bloße beziehungsbegriffe, und &#x017F;ie &#x017F;ind gewiß in je-<lb/>
dem We&#x017F;en auf eine andere Art wirklich. Der Meve,<lb/>
die in einem Nachmittag 200 Stunden &#x017F;pazieren fliegt,<lb/>
muß die&#x017F;e Strecke etwan &#x017F;o weit, wie der Schnecke<lb/>
einige Schritte vorkommen. Beym Ausme&#x017F;&#x017F;en der Gro&#x0364;-<lb/>
ße macht jedesmal das Kind &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zum Maaß&#x017F;tab;<lb/>
daher &#x017F;cheint ihm &#x017F;ein va&#x0364;terliches Haus, welches <hi rendition="#g">es</hi><lb/>
&#x017F;ich wa&#x0364;hrend einer mehrja&#x0364;hrigen Entfernung immer<lb/>
nach &#x017F;einen er&#x017F;ten Begriffen vor&#x017F;tellte, bey &#x017F;einer An-<lb/>
kunft &#x017F;o eng, &#x017F;o nieder: denn das ganze Verha&#x0364;lt-<lb/>
niß zwi&#x017F;chen ihm und dem Hau&#x017F;e i&#x017F;t vera&#x0364;ndert. Es i&#x017F;t<lb/>
folglich &#x017F;ehr &#x017F;chwer zu be&#x017F;timmen, in wie fern wir je-<lb/>
mals von einer Sache a&#x0364;chte Begriffe haben; be&#x017F;on-<lb/>
ders da wir nur in &#x017F;ofern davon urtheilen ko&#x0364;nnen,<lb/>
als &#x017F;ie in die 3-4-5 Sinne fa&#x0364;llt. &#x2014; Wahr&#x017F;cheinlich ver-<lb/>
ha&#x0364;lt &#x017F;ich da die Seele gro&#x0364;&#x017F;tentheils leidend; denn auch<lb/>
daß die Seele durch die Sinne me&#x017F;&#x017F;en, vergleichen<lb/>
und gei&#x017F;tig empfinden lerne, kann ich deßwegen nicht<lb/>
zugeben, weil jede Seele bey vollkommenen Sinnen<lb/>
al&#x017F;ogleich vollkommen &#x017F;ieht, ho&#x0364;rt, &#x017F;chmeckt, riecht,<lb/>
und fu&#x0364;hlt, wie wir es bisher in &#x017F;o vielen Bey&#x017F;pielen<lb/>
ge&#x017F;ehen haben. Denen der Staar operirt wird, &#x017F;cheint<lb/>
es zwar, die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde beru&#x0364;hrten das Aug unmit-<lb/>
telbar; allein, man weiß, daß &#x017F;ich alle un&#x017F;ere Gefu&#x0364;h-<lb/>
le nach den herr&#x017F;chenden richten, und die&#x017F;es &#x017F;o &#x017F;ehr,<lb/>
daß &#x017F;chwa&#x0364;chere Gefu&#x0364;hle bei obwaltenden &#x017F;ta&#x0364;rkern ent-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">weder</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[125/0144] denn das Bild mahlet ſich den erſten Tag aufs Auge, wie es ſich den letzten des Lebens mahlen wird; aber die Seele durch den Sinn lernt meſſen, vergleichen, geiſtig empfinden.„ — Groͤße, Entfernung u. ſ. w. ſind bloße beziehungsbegriffe, und ſie ſind gewiß in je- dem Weſen auf eine andere Art wirklich. Der Meve, die in einem Nachmittag 200 Stunden ſpazieren fliegt, muß dieſe Strecke etwan ſo weit, wie der Schnecke einige Schritte vorkommen. Beym Ausmeſſen der Groͤ- ße macht jedesmal das Kind ſich ſelbſt zum Maaßſtab; daher ſcheint ihm ſein vaͤterliches Haus, welches es ſich waͤhrend einer mehrjaͤhrigen Entfernung immer nach ſeinen erſten Begriffen vorſtellte, bey ſeiner An- kunft ſo eng, ſo nieder: denn das ganze Verhaͤlt- niß zwiſchen ihm und dem Hauſe iſt veraͤndert. Es iſt folglich ſehr ſchwer zu beſtimmen, in wie fern wir je- mals von einer Sache aͤchte Begriffe haben; beſon- ders da wir nur in ſofern davon urtheilen koͤnnen, als ſie in die 3-4-5 Sinne faͤllt. — Wahrſcheinlich ver- haͤlt ſich da die Seele groͤſtentheils leidend; denn auch daß die Seele durch die Sinne meſſen, vergleichen und geiſtig empfinden lerne, kann ich deßwegen nicht zugeben, weil jede Seele bey vollkommenen Sinnen alſogleich vollkommen ſieht, hoͤrt, ſchmeckt, riecht, und fuͤhlt, wie wir es bisher in ſo vielen Beyſpielen geſehen haben. Denen der Staar operirt wird, ſcheint es zwar, die Gegenſtaͤnde beruͤhrten das Aug unmit- telbar; allein, man weiß, daß ſich alle unſere Gefuͤh- le nach den herrſchenden richten, und dieſes ſo ſehr, daß ſchwaͤchere Gefuͤhle bei obwaltenden ſtaͤrkern ent- weder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/144
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/144>, abgerufen am 21.11.2024.