weh, wenn wir gähling aus dem einen in das andere übergehen. Und wenn denn die Seele beym Sehen so künstlich ist, waram halten wir so oft eine Fliege, die eine Spanne vor unserm Auge schwebt, für einen grossen hoch in den Lüften schwebenden Vogel? Wa- rum sehen wir so viele Dinge, Feuer, schwarze Fle- cken u. d. gl. die gar nicht außer dem Auge sind? -- Der körperliche Sinn lehret nichts, aber daß sich deßwegen das Bild den ersten Tag aufs Auge mahle wie es sich den letzten des Lebens darauf mahlen wird, ist nicht glaubbar, und widerspricht allen bekannten Gesetzen der Physik und der Physiologie. Der Ab- druck, die Strahlenbrechung können in einem matten trüben, gebrochenen Auge, dessen Säfte noch nicht gehörig abgeschieden, gleichsam noch zusammengeflos- sen sind, wie das Auge des Kindes und des jungen Hundes beschaffen ist, unmöglich so deutlich, lebhaft und zusammenstimmend seyn, als in einem gutausge- zeichneten, durchscheinenden, feuervollen und mit ge- höriger Reizbarkeit versehenen Auge, wie z. B. das Auge der Gazelle, des Falken und eines schon entwi- ckelten Menschen ist. Ich will nichts von der gehöri- gen Festigkeit der Nerven eines jedweden Sinnes, und des Gehirnes sagen, bey deren Fehler die geübteste Seele augenblicklich ihre feine Mechanik und Meß- kunst in eine Chimäre verwandelt sieht.
§. 32.
weh, wenn wir gaͤhling aus dem einen in das andere uͤbergehen. Und wenn denn die Seele beym Sehen ſo kuͤnſtlich iſt, waram halten wir ſo oft eine Fliege, die eine Spanne vor unſerm Auge ſchwebt, fuͤr einen groſſen hoch in den Luͤften ſchwebenden Vogel? Wa- rum ſehen wir ſo viele Dinge, Feuer, ſchwarze Fle- cken u. d. gl. die gar nicht außer dem Auge ſind? — Der koͤrperliche Sinn lehret nichts, aber daß ſich deßwegen das Bild den erſten Tag aufs Auge mahle wie es ſich den letzten des Lebens darauf mahlen wird, iſt nicht glaubbar, und widerſpricht allen bekannten Geſetzen der Phyſik und der Phyſiologie. Der Ab- druck, die Strahlenbrechung koͤnnen in einem matten truͤben, gebrochenen Auge, deſſen Saͤfte noch nicht gehoͤrig abgeſchieden, gleichſam noch zuſammengefloſ- ſen ſind, wie das Auge des Kindes und des jungen Hundes beſchaffen iſt, unmoͤglich ſo deutlich, lebhaft und zuſammenſtimmend ſeyn, als in einem gutausge- zeichneten, durchſcheinenden, feuervollen und mit ge- hoͤriger Reizbarkeit verſehenen Auge, wie z. B. das Auge der Gazelle, des Falken und eines ſchon entwi- ckelten Menſchen iſt. Ich will nichts von der gehoͤri- gen Feſtigkeit der Nerven eines jedweden Sinnes, und des Gehirnes ſagen, bey deren Fehler die geuͤbteſte Seele augenblicklich ihre feine Mechanik und Meß- kunſt in eine Chimaͤre verwandelt ſieht.
§. 32.
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weh, wenn wir gaͤhling aus dem einen in das andere
uͤbergehen. Und wenn denn die Seele beym Sehen
ſo kuͤnſtlich iſt, waram halten wir ſo oft eine Fliege,
die eine Spanne vor unſerm Auge ſchwebt, fuͤr einen
groſſen hoch in den Luͤften ſchwebenden Vogel? Wa-
rum ſehen wir ſo viele Dinge, Feuer, ſchwarze Fle-
cken u. d. gl. die gar nicht außer dem Auge ſind? —
Der koͤrperliche Sinn lehret nichts, aber daß ſich
deßwegen das Bild den erſten Tag aufs Auge mahle
wie es ſich den letzten des Lebens darauf mahlen wird,
iſt nicht glaubbar, und widerſpricht allen bekannten
Geſetzen der Phyſik und der Phyſiologie. Der Ab-
druck, die Strahlenbrechung koͤnnen in einem matten
truͤben, gebrochenen Auge, deſſen Saͤfte noch nicht
gehoͤrig abgeſchieden, gleichſam noch zuſammengefloſ-
ſen ſind, wie das Auge des Kindes und des jungen
Hundes beſchaffen iſt, unmoͤglich ſo deutlich, lebhaft
und zuſammenſtimmend ſeyn, als in einem gutausge-
zeichneten, durchſcheinenden, feuervollen und mit ge-
hoͤriger Reizbarkeit verſehenen Auge, wie z. B. das
Auge der Gazelle, des Falken und eines ſchon entwi-
ckelten Menſchen iſt. Ich will nichts von der gehoͤri-
gen Feſtigkeit der Nerven eines jedweden Sinnes, und
des Gehirnes ſagen, bey deren Fehler die geuͤbteſte
Seele augenblicklich ihre feine Mechanik und Meß-
kunſt in eine Chimaͤre verwandelt ſieht.
§. 32.
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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/146>, abgerufen am 21.11.2024.
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