Vom Einfluß des Körpers auf die Seele ins- besondere. §. 43.
In der Kindheit ist der Körper schwach, das Gehirn, die Knochen, die Nerven sind weich; alle Theile sind noch unausgebildet und roh; die Seele ist in diesem Alter zur Vernunft und zum Verstande un- fähig, ihr Denken ist Phantastren, ihr Schließen ist Radotiren, und ihre ganze Beschäfftigung träumen. Nach und nach bildet sich der Körper aus; das Ge- hirn entwickelt sich; die Nerven bekommen Festigkeit und Stärke; die Seele folgt dieser Ausbildung Schritt vor Schritt nach; die Ideen werden figirt, Ueberle- gung und Nachdenken tritt an die Stelle der Phan- tasie, und Grundsäze an die Stelle der wilden Einfäl- le. Nach dem höchsten Punkt seiner Stärke nimmt der Körper wieder ab, das Gehirn wird entweder zu hart, oder verwandelt sich in eine wässerichte Mate- rie, die Nerven werden unempfindlich, und die Mus- keln steif; die Seele verliert eine Fähigkeit nach der andern; das Gedächtniß nimmt ab; Affekten und Lei- denschaften verschwinden; der Verstand wird dunkel, und geht endlich in Albernheit über. *)
Eine
*) -- -- -- Gigni pariter cum corpore & una Crescere sentimns, pariterque senescere mentem. Nam velut infirmo pueri teneroque vagantur Corpore; sic animi sequitur sententia tenuis. Inde ubi robustis adolevit viribus aetas, Consilium quoque majus, & accutior est animi vis. Post ubi jam validis quassatum est viribus aevi
Cor-
Vom Einfluß des Koͤrpers auf die Seele ins- beſondere. §. 43.
In der Kindheit iſt der Koͤrper ſchwach, das Gehirn, die Knochen, die Nerven ſind weich; alle Theile ſind noch unausgebildet und roh; die Seele iſt in dieſem Alter zur Vernunft und zum Verſtande un- faͤhig, ihr Denken iſt Phantaſtren, ihr Schließen iſt Radotiren, und ihre ganze Beſchaͤfftigung traͤumen. Nach und nach bildet ſich der Koͤrper aus; das Ge- hirn entwickelt ſich; die Nerven bekommen Feſtigkeit und Staͤrke; die Seele folgt dieſer Ausbildung Schritt vor Schritt nach; die Ideen werden figirt, Ueberle- gung und Nachdenken tritt an die Stelle der Phan- taſie, und Grundſaͤze an die Stelle der wilden Einfaͤl- le. Nach dem hoͤchſten Punkt ſeiner Staͤrke nimmt der Koͤrper wieder ab, das Gehirn wird entweder zu hart, oder verwandelt ſich in eine waͤſſerichte Mate- rie, die Nerven werden unempfindlich, und die Mus- keln ſteif; die Seele verliert eine Faͤhigkeit nach der andern; das Gedaͤchtniß nimmt ab; Affekten und Lei- denſchaften verſchwinden; der Verſtand wird dunkel, und geht endlich in Albernheit uͤber. *)
Eine
*) — — — Gigni pariter cum corpore & una Creſcere ſentimns, pariterque ſeneſcere mentem. Nam velut infirmo pueri teneroque vagantur Corpore; ſic animi ſequitur ſententia tenuis. Inde ubi robuſtis adolevit viribus ætas, Conſilium quoque majus, & accutior eſt animi vis. Poſt ubi jam validis quaſſatum eſt viribus ævi
Cor-
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Vom Einfluß des Koͤrpers auf die Seele ins-
beſondere.
§. 43.
In der Kindheit iſt der Koͤrper ſchwach, das
Gehirn, die Knochen, die Nerven ſind weich; alle
Theile ſind noch unausgebildet und roh; die Seele iſt
in dieſem Alter zur Vernunft und zum Verſtande un-
faͤhig, ihr Denken iſt Phantaſtren, ihr Schließen iſt
Radotiren, und ihre ganze Beſchaͤfftigung traͤumen.
Nach und nach bildet ſich der Koͤrper aus; das Ge-
hirn entwickelt ſich; die Nerven bekommen Feſtigkeit
und Staͤrke; die Seele folgt dieſer Ausbildung Schritt
vor Schritt nach; die Ideen werden figirt, Ueberle-
gung und Nachdenken tritt an die Stelle der Phan-
taſie, und Grundſaͤze an die Stelle der wilden Einfaͤl-
le. Nach dem hoͤchſten Punkt ſeiner Staͤrke nimmt
der Koͤrper wieder ab, das Gehirn wird entweder zu
hart, oder verwandelt ſich in eine waͤſſerichte Mate-
rie, die Nerven werden unempfindlich, und die Mus-
keln ſteif; die Seele verliert eine Faͤhigkeit nach der
andern; das Gedaͤchtniß nimmt ab; Affekten und Lei-
denſchaften verſchwinden; der Verſtand wird dunkel,
und geht endlich in Albernheit uͤber. *)
Eine
*) — — — Gigni pariter cum corpore & una
Creſcere ſentimns, pariterque ſeneſcere mentem.
Nam velut infirmo pueri teneroque vagantur
Corpore; ſic animi ſequitur ſententia tenuis.
Inde ubi robuſtis adolevit viribus ætas,
Conſilium quoque majus, & accutior eſt animi vis.
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Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/202>, abgerufen am 21.11.2024.
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