Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

sucht und Dummheit. Die Anreizung körperlicher
Wollust, eine etwas starke sinnliche Empfindung, ei-
ne körperliche Gewohnheit, oder ein körperliches Be-
dürfniß überwältigen uns unwiderstehlich, zerstören
unsere Grundsätze, und vernichten unsere Entschlüsse.*)

"Ein etwas schnellerer oder langsamerer Umlauf der
Säfte, sagt Tissot**), ein etwas dikeres oder dünne-
res Blut, einige Loth Speise oder Getränke weniger;
ja sogar eine Quantität Speise von einer andern Spei-
se; eine Tasse Kaffe, statt eines Gläschen Weins;
ein etwas kürzerer oder längerer, ruhiger oder unru-
higer Schlaf; ein Stuhlgang, der ein wenig stärker
oder geringer abgeht; eine etwas stärkere oder gerin-
gere Ausdünstung können unsere Art und Weise, die
Gegenstände zu sehen und zu beurtheilen, ganz und
gar verändern. Die in unserer Maschine vorgehenden
Veränderungen lassen uns von einer Stunde zur andern
auf ganz verschiedene Art empfinden und denken, und
schaffen in uns nach ihrem Belieben neue Grundsätze
von Lastern und von Tugenden." Der Körperbau des
Vaters erzeugt nicht selten einerley sittliches Betragen
und einerley Denkart im Sohne. Wenn man em-
pfinden, und mit gehöriger Deutlichkeit und Stärke
empfinden soll: so muß das Gehirn seine gehörige Be-
schaffenheit haben; die jedesmahlige Beschaffenheit der
empfindenden Nerven hat in die Deutlichkeit, die

Stär-
*) Temeritas omnis animoram, calamitate corporum fran-
gitur: & frigescunt impetus mentium, quos non expli-
cant ministeria membrorum. Quintilian. Declamat. I.
**) Von der Onanie.

ſucht und Dummheit. Die Anreizung koͤrperlicher
Wolluſt, eine etwas ſtarke ſinnliche Empfindung, ei-
ne koͤrperliche Gewohnheit, oder ein koͤrperliches Be-
duͤrfniß uͤberwaͤltigen uns unwiderſtehlich, zerſtoͤren
unſere Grundſaͤtze, und vernichten unſere Entſchluͤſſe.*)

„Ein etwas ſchnellerer oder langſamerer Umlauf der
Saͤfte, ſagt Tiſſot**), ein etwas dikeres oder duͤnne-
res Blut, einige Loth Speiſe oder Getraͤnke weniger;
ja ſogar eine Quantitaͤt Speiſe von einer andern Spei-
ſe; eine Taſſe Kaffe, ſtatt eines Glaͤschen Weins;
ein etwas kuͤrzerer oder laͤngerer, ruhiger oder unru-
higer Schlaf; ein Stuhlgang, der ein wenig ſtaͤrker
oder geringer abgeht; eine etwas ſtaͤrkere oder gerin-
gere Ausduͤnſtung koͤnnen unſere Art und Weiſe, die
Gegenſtaͤnde zu ſehen und zu beurtheilen, ganz und
gar veraͤndern. Die in unſerer Maſchine vorgehenden
Veraͤnderungen laſſen uns von einer Stunde zur andern
auf ganz verſchiedene Art empfinden und denken, und
ſchaffen in uns nach ihrem Belieben neue Grundſaͤtze
von Laſtern und von Tugenden.„ Der Koͤrperbau des
Vaters erzeugt nicht ſelten einerley ſittliches Betragen
und einerley Denkart im Sohne. Wenn man em-
pfinden, und mit gehoͤriger Deutlichkeit und Staͤrke
empfinden ſoll: ſo muß das Gehirn ſeine gehoͤrige Be-
ſchaffenheit haben; die jedesmahlige Beſchaffenheit der
empfindenden Nerven hat in die Deutlichkeit, die

Staͤr-
*) Temeritas omnis animoram, calamitate corporum fran-
gitur: & frigeſcunt impetus mentium, quos non expli-
cant miniſteria membrorum. Quintilian. Declamat. I.
**) Von der Onanie.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0204" n="185"/>
&#x017F;ucht und Dummheit. Die Anreizung ko&#x0364;rperlicher<lb/>
Wollu&#x017F;t, eine etwas &#x017F;tarke &#x017F;innliche Empfindung, ei-<lb/>
ne ko&#x0364;rperliche Gewohnheit, oder ein ko&#x0364;rperliches Be-<lb/>
du&#x0364;rfniß u&#x0364;berwa&#x0364;ltigen uns unwider&#x017F;tehlich, zer&#x017F;to&#x0364;ren<lb/>
un&#x017F;ere Grund&#x017F;a&#x0364;tze, und vernichten un&#x017F;ere Ent&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e.<note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">Temeritas omnis animoram, calamitate corporum fran-<lb/>
gitur: &amp; frige&#x017F;cunt impetus mentium, quos non expli-<lb/>
cant mini&#x017F;teria membrorum. Quintilian. Declamat. I.</hi></note></p><lb/>
            <p>&#x201E;Ein etwas &#x017F;chnellerer oder lang&#x017F;amerer Umlauf der<lb/>
Sa&#x0364;fte, &#x017F;agt <hi rendition="#fr">Ti&#x017F;&#x017F;ot</hi><note place="foot" n="**)">Von der Onanie.</note>, ein etwas dikeres oder du&#x0364;nne-<lb/>
res Blut, einige Loth Spei&#x017F;e oder Getra&#x0364;nke weniger;<lb/>
ja &#x017F;ogar eine Quantita&#x0364;t Spei&#x017F;e von einer andern Spei-<lb/>
&#x017F;e; eine Ta&#x017F;&#x017F;e Kaffe, &#x017F;tatt eines Gla&#x0364;schen Weins;<lb/>
ein etwas ku&#x0364;rzerer oder la&#x0364;ngerer, ruhiger oder unru-<lb/>
higer Schlaf; ein Stuhlgang, der ein wenig &#x017F;ta&#x0364;rker<lb/>
oder geringer abgeht; eine etwas &#x017F;ta&#x0364;rkere oder gerin-<lb/>
gere Ausdu&#x0364;n&#x017F;tung ko&#x0364;nnen un&#x017F;ere Art und Wei&#x017F;e, die<lb/>
Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde zu &#x017F;ehen und zu beurtheilen, ganz und<lb/>
gar vera&#x0364;ndern. Die in un&#x017F;erer Ma&#x017F;chine vorgehenden<lb/>
Vera&#x0364;nderungen la&#x017F;&#x017F;en uns von einer Stunde zur andern<lb/>
auf ganz ver&#x017F;chiedene Art empfinden und denken, und<lb/>
&#x017F;chaffen in uns nach ihrem Belieben neue Grund&#x017F;a&#x0364;tze<lb/>
von La&#x017F;tern und von Tugenden.&#x201E; Der Ko&#x0364;rperbau des<lb/>
Vaters erzeugt nicht &#x017F;elten einerley &#x017F;ittliches Betragen<lb/>
und einerley Denkart im Sohne. Wenn man em-<lb/>
pfinden, und mit geho&#x0364;riger Deutlichkeit und Sta&#x0364;rke<lb/>
empfinden &#x017F;oll: &#x017F;o muß das Gehirn &#x017F;eine geho&#x0364;rige Be-<lb/>
&#x017F;chaffenheit haben; die jedesmahlige Be&#x017F;chaffenheit der<lb/>
empfindenden Nerven hat in die Deutlichkeit, die<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Sta&#x0364;r-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[185/0204] ſucht und Dummheit. Die Anreizung koͤrperlicher Wolluſt, eine etwas ſtarke ſinnliche Empfindung, ei- ne koͤrperliche Gewohnheit, oder ein koͤrperliches Be- duͤrfniß uͤberwaͤltigen uns unwiderſtehlich, zerſtoͤren unſere Grundſaͤtze, und vernichten unſere Entſchluͤſſe. *) „Ein etwas ſchnellerer oder langſamerer Umlauf der Saͤfte, ſagt Tiſſot **), ein etwas dikeres oder duͤnne- res Blut, einige Loth Speiſe oder Getraͤnke weniger; ja ſogar eine Quantitaͤt Speiſe von einer andern Spei- ſe; eine Taſſe Kaffe, ſtatt eines Glaͤschen Weins; ein etwas kuͤrzerer oder laͤngerer, ruhiger oder unru- higer Schlaf; ein Stuhlgang, der ein wenig ſtaͤrker oder geringer abgeht; eine etwas ſtaͤrkere oder gerin- gere Ausduͤnſtung koͤnnen unſere Art und Weiſe, die Gegenſtaͤnde zu ſehen und zu beurtheilen, ganz und gar veraͤndern. Die in unſerer Maſchine vorgehenden Veraͤnderungen laſſen uns von einer Stunde zur andern auf ganz verſchiedene Art empfinden und denken, und ſchaffen in uns nach ihrem Belieben neue Grundſaͤtze von Laſtern und von Tugenden.„ Der Koͤrperbau des Vaters erzeugt nicht ſelten einerley ſittliches Betragen und einerley Denkart im Sohne. Wenn man em- pfinden, und mit gehoͤriger Deutlichkeit und Staͤrke empfinden ſoll: ſo muß das Gehirn ſeine gehoͤrige Be- ſchaffenheit haben; die jedesmahlige Beſchaffenheit der empfindenden Nerven hat in die Deutlichkeit, die Staͤr- *) Temeritas omnis animoram, calamitate corporum fran- gitur: & frigeſcunt impetus mentium, quos non expli- cant miniſteria membrorum. Quintilian. Declamat. I. **) Von der Onanie.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/204
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/204>, abgerufen am 21.11.2024.