Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

le erregen, und also die Seele die Zerrüttung nicht
fühlt, wo sie keine Unordnung im Körper gewahr
wird, und dennoch so viele Ausbrüche von Krankhei-
ten, so viele Entdeckungen ihrer Ursachen so plözlich
und unerwartet geschehen? Was ist hier das dem ver-
steckten Reize entgegenwirkende Wesen? Die Seele
nicht, weil man ihre völlige Unwissenheit gesteht. Zu-
dem widerspricht dieser Paragraph dem 275, wo man
behauptet, daß nicht die geringste lebendige Bewegung,
ohne Theilnehmung der Seelenkraft, bewirkt werden
könne.

7) Diese Hypothese ist um so sonderbarer, weil
es ihre Vertheidiger für mehr als wahrscheinlich hal-
ten, daß durch die ganze materielle Natur eine höchst
wirksame Kraft, oder Substanz verbreitet sey, welche
alles durchdringt, und in sich enthält die Quelle aller
thierischen Empfindung und Bewegung, und den ge-
meinschaftlichen Stoff des Lebens aller organisirten
Geschöpfe §. 139. Dieser allgemeine Lebensgeist der
materiellen Natur befindet sich mehr oder weniger häu-
fig, und mehr oder weniger entwickelt in allen Spei-
sen und Getränken, und folglich auch in dem Blut
und Serum, woraus sich der Nervengeist erzeugt,
und in der Luft, die uns umgiebt §. 140. Wenn
dieser Nervengeist zum Leben hinreicht, so muß er auch
zu den Bedingnißen, ohne welche kein Leben besteht,
als: Bewegung, Nahrung, Ab- und Aussonderung
u. s. w. hinreichend seyn. Aber, sagen Sie, diese Le-
bendigkeit der Materie ist bloß ein Schein von der Le-
bendigkeit, d. h. von der selbstständigen Kraft ihrer

ein-

le erregen, und alſo die Seele die Zerruͤttung nicht
fuͤhlt, wo ſie keine Unordnung im Koͤrper gewahr
wird, und dennoch ſo viele Ausbruͤche von Krankhei-
ten, ſo viele Entdeckungen ihrer Urſachen ſo ploͤzlich
und unerwartet geſchehen? Was iſt hier das dem ver-
ſteckten Reize entgegenwirkende Weſen? Die Seele
nicht, weil man ihre voͤllige Unwiſſenheit geſteht. Zu-
dem widerſpricht dieſer Paragraph dem 275, wo man
behauptet, daß nicht die geringſte lebendige Bewegung,
ohne Theilnehmung der Seelenkraft, bewirkt werden
koͤnne.

7) Dieſe Hypotheſe iſt um ſo ſonderbarer, weil
es ihre Vertheidiger fuͤr mehr als wahrſcheinlich hal-
ten, daß durch die ganze materielle Natur eine hoͤchſt
wirkſame Kraft, oder Subſtanz verbreitet ſey, welche
alles durchdringt, und in ſich enthaͤlt die Quelle aller
thieriſchen Empfindung und Bewegung, und den ge-
meinſchaftlichen Stoff des Lebens aller organiſirten
Geſchoͤpfe §. 139. Dieſer allgemeine Lebensgeiſt der
materiellen Natur befindet ſich mehr oder weniger haͤu-
fig, und mehr oder weniger entwickelt in allen Spei-
ſen und Getraͤnken, und folglich auch in dem Blut
und Serum, woraus ſich der Nervengeiſt erzeugt,
und in der Luft, die uns umgiebt §. 140. Wenn
dieſer Nervengeiſt zum Leben hinreicht, ſo muß er auch
zu den Bedingnißen, ohne welche kein Leben beſteht,
als: Bewegung, Nahrung, Ab- und Ausſonderung
u. ſ. w. hinreichend ſeyn. Aber, ſagen Sie, dieſe Le-
bendigkeit der Materie iſt bloß ein Schein von der Le-
bendigkeit, d. h. von der ſelbſtſtaͤndigen Kraft ihrer

ein-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0045" n="26"/>
le erregen, und al&#x017F;o die Seele die Zerru&#x0364;ttung nicht<lb/>
fu&#x0364;hlt, wo &#x017F;ie keine Unordnung im Ko&#x0364;rper gewahr<lb/>
wird, und dennoch &#x017F;o viele Ausbru&#x0364;che von Krankhei-<lb/>
ten, &#x017F;o viele Entdeckungen ihrer Ur&#x017F;achen &#x017F;o plo&#x0364;zlich<lb/>
und unerwartet ge&#x017F;chehen? Was i&#x017F;t hier das dem ver-<lb/>
&#x017F;teckten Reize entgegenwirkende We&#x017F;en? Die Seele<lb/>
nicht, weil man ihre vo&#x0364;llige Unwi&#x017F;&#x017F;enheit ge&#x017F;teht. Zu-<lb/>
dem wider&#x017F;pricht die&#x017F;er Paragraph dem 275, wo man<lb/>
behauptet, daß nicht die gering&#x017F;te lebendige Bewegung,<lb/>
ohne Theilnehmung der Seelenkraft, bewirkt werden<lb/>
ko&#x0364;nne.</p><lb/>
            <p>7) Die&#x017F;e Hypothe&#x017F;e i&#x017F;t um &#x017F;o &#x017F;onderbarer, weil<lb/>
es ihre Vertheidiger fu&#x0364;r mehr als wahr&#x017F;cheinlich hal-<lb/>
ten, daß durch die ganze materielle Natur eine ho&#x0364;ch&#x017F;t<lb/>
wirk&#x017F;ame Kraft, oder Sub&#x017F;tanz verbreitet &#x017F;ey, welche<lb/>
alles durchdringt, und in &#x017F;ich entha&#x0364;lt die Quelle aller<lb/>
thieri&#x017F;chen Empfindung und Bewegung, und den ge-<lb/>
mein&#x017F;chaftlichen Stoff des Lebens aller organi&#x017F;irten<lb/>
Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe §. 139. Die&#x017F;er allgemeine Lebensgei&#x017F;t der<lb/>
materiellen Natur befindet &#x017F;ich mehr oder weniger ha&#x0364;u-<lb/>
fig, und mehr oder weniger entwickelt in allen Spei-<lb/>
&#x017F;en und Getra&#x0364;nken, und folglich auch in dem Blut<lb/>
und Serum, woraus &#x017F;ich der Nervengei&#x017F;t erzeugt,<lb/>
und in der Luft, die uns umgiebt §. 140. Wenn<lb/>
die&#x017F;er Nervengei&#x017F;t zum Leben hinreicht, &#x017F;o muß er auch<lb/>
zu den Bedingnißen, ohne welche kein Leben be&#x017F;teht,<lb/>
als: Bewegung, Nahrung, Ab- und Aus&#x017F;onderung<lb/>
u. &#x017F;. w. hinreichend &#x017F;eyn. Aber, &#x017F;agen Sie, die&#x017F;e Le-<lb/>
bendigkeit der Materie i&#x017F;t bloß ein Schein von der Le-<lb/>
bendigkeit, d. h. von der &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;ta&#x0364;ndigen Kraft ihrer<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ein-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0045] le erregen, und alſo die Seele die Zerruͤttung nicht fuͤhlt, wo ſie keine Unordnung im Koͤrper gewahr wird, und dennoch ſo viele Ausbruͤche von Krankhei- ten, ſo viele Entdeckungen ihrer Urſachen ſo ploͤzlich und unerwartet geſchehen? Was iſt hier das dem ver- ſteckten Reize entgegenwirkende Weſen? Die Seele nicht, weil man ihre voͤllige Unwiſſenheit geſteht. Zu- dem widerſpricht dieſer Paragraph dem 275, wo man behauptet, daß nicht die geringſte lebendige Bewegung, ohne Theilnehmung der Seelenkraft, bewirkt werden koͤnne. 7) Dieſe Hypotheſe iſt um ſo ſonderbarer, weil es ihre Vertheidiger fuͤr mehr als wahrſcheinlich hal- ten, daß durch die ganze materielle Natur eine hoͤchſt wirkſame Kraft, oder Subſtanz verbreitet ſey, welche alles durchdringt, und in ſich enthaͤlt die Quelle aller thieriſchen Empfindung und Bewegung, und den ge- meinſchaftlichen Stoff des Lebens aller organiſirten Geſchoͤpfe §. 139. Dieſer allgemeine Lebensgeiſt der materiellen Natur befindet ſich mehr oder weniger haͤu- fig, und mehr oder weniger entwickelt in allen Spei- ſen und Getraͤnken, und folglich auch in dem Blut und Serum, woraus ſich der Nervengeiſt erzeugt, und in der Luft, die uns umgiebt §. 140. Wenn dieſer Nervengeiſt zum Leben hinreicht, ſo muß er auch zu den Bedingnißen, ohne welche kein Leben beſteht, als: Bewegung, Nahrung, Ab- und Ausſonderung u. ſ. w. hinreichend ſeyn. Aber, ſagen Sie, dieſe Le- bendigkeit der Materie iſt bloß ein Schein von der Le- bendigkeit, d. h. von der ſelbſtſtaͤndigen Kraft ihrer ein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/45
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/45>, abgerufen am 24.11.2024.