len. Lieutaud sahe eine Blutung aus der Harnröhre bey einem Wollüstling. Sie verfallen gerne in Ohnmach- ten; sind sehr mißmuthig und verzagt; sterben bald gählings unvermuthet, bald gehen ihrem Tode öftere und schwere Ohnmachten vorher. --
Bey Galenus verfiel ein fünf und zwanzig jäh- riger, hagerer, abgezehrter, trockner Mann aus er- schöpfenden Ursachen in ein eintägiges Fieber. Die so genannten Diatritarii*) ließen ihn zwey Tage ohne alle Nahrung, und hatten es auch so beym dritten Anfalle beschlossen. Nun kam aber Galenus dazu; dieser sah, daß der Kranke schon völlig das Hyppo- kratische Aussehen hatte, und befürchtete daher eine Abzehrung oder das hektische Fieber; er gab ihm et- was leicht Nahrhaftes zu schlürfen; das Fieber kam zur gewöhnlichen Stunde mit einem sehr kleinen Pulse und so kalten Gliedern, daß er kaum zu erwärmen war. Den vierten Tag gab er ihm die nämliche Nah- rung zweymal, den fünften Tag eine stärkere. So fuhr er bis den eilften Tag fort, da indessen die an- dern Aerzte unaufhörlich schryen, daß der Kranke zu viel genährt werde. Galenus hatte beobachtet, daß der Puls etwas an Kraft zugenommen habe, und entschloß sich daher, seine Gegner durch eine Thatsa- che zu widerlegen. Er gab also dem Kranken gar kei- ne Nahrung; da nun um die Zeit des Anfalles die übrigen Aerzte alle beysammen waren, zog er den Schlüßel von der Thüre. Das Fieber kam -- aber
der
*) Eine Sekte von Aerzten, welche jedem Kranken die er- sten drey Tage alle Nahrung entzogen.
len. Lieutaud ſahe eine Blutung aus der Harnroͤhre bey einem Wolluͤſtling. Sie verfallen gerne in Ohnmach- ten; ſind ſehr mißmuthig und verzagt; ſterben bald gaͤhlings unvermuthet, bald gehen ihrem Tode oͤftere und ſchwere Ohnmachten vorher. —
Bey Galenus verfiel ein fuͤnf und zwanzig jaͤh- riger, hagerer, abgezehrter, trockner Mann aus er- ſchoͤpfenden Urſachen in ein eintaͤgiges Fieber. Die ſo genannten Diatritarii*) ließen ihn zwey Tage ohne alle Nahrung, und hatten es auch ſo beym dritten Anfalle beſchloſſen. Nun kam aber Galenus dazu; dieſer ſah, daß der Kranke ſchon voͤllig das Hyppo- kratiſche Ausſehen hatte, und befuͤrchtete daher eine Abzehrung oder das hektiſche Fieber; er gab ihm et- was leicht Nahrhaftes zu ſchluͤrfen; das Fieber kam zur gewoͤhnlichen Stunde mit einem ſehr kleinen Pulſe und ſo kalten Gliedern, daß er kaum zu erwaͤrmen war. Den vierten Tag gab er ihm die naͤmliche Nah- rung zweymal, den fuͤnften Tag eine ſtaͤrkere. So fuhr er bis den eilften Tag fort, da indeſſen die an- dern Aerzte unaufhoͤrlich ſchryen, daß der Kranke zu viel genaͤhrt werde. Galenus hatte beobachtet, daß der Puls etwas an Kraft zugenommen habe, und entſchloß ſich daher, ſeine Gegner durch eine Thatſa- che zu widerlegen. Er gab alſo dem Kranken gar kei- ne Nahrung; da nun um die Zeit des Anfalles die uͤbrigen Aerzte alle beyſammen waren, zog er den Schluͤßel von der Thuͤre. Das Fieber kam — aber
der
*) Eine Sekte von Aerzten, welche jedem Kranken die er- ſten drey Tage alle Nahrung entzogen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0543"n="524"/>
len. <hirendition="#fr">Lieutaud</hi>ſahe eine Blutung aus der Harnroͤhre<lb/>
bey einem Wolluͤſtling. Sie verfallen gerne in Ohnmach-<lb/>
ten; ſind ſehr mißmuthig und verzagt; ſterben bald<lb/>
gaͤhlings unvermuthet, bald gehen ihrem Tode oͤftere<lb/>
und ſchwere Ohnmachten vorher. —</p><lb/><p>Bey <hirendition="#fr">Galenus</hi> verfiel ein fuͤnf und zwanzig jaͤh-<lb/>
riger, hagerer, abgezehrter, trockner Mann aus er-<lb/>ſchoͤpfenden Urſachen in ein eintaͤgiges Fieber. Die ſo<lb/>
genannten Diatritarii<noteplace="foot"n="*)">Eine Sekte von Aerzten, welche jedem Kranken die er-<lb/>ſten drey Tage alle Nahrung entzogen.</note> ließen ihn zwey Tage ohne<lb/>
alle Nahrung, und hatten es auch ſo beym dritten<lb/>
Anfalle beſchloſſen. Nun kam aber <hirendition="#fr">Galenus</hi> dazu;<lb/>
dieſer ſah, daß der Kranke ſchon voͤllig das Hyppo-<lb/>
kratiſche Ausſehen hatte, und befuͤrchtete daher eine<lb/>
Abzehrung oder das hektiſche Fieber; er gab ihm et-<lb/>
was leicht Nahrhaftes zu ſchluͤrfen; das Fieber kam<lb/>
zur gewoͤhnlichen Stunde mit einem ſehr kleinen Pulſe<lb/>
und ſo kalten Gliedern, daß er kaum zu erwaͤrmen<lb/>
war. Den vierten Tag gab er ihm die naͤmliche Nah-<lb/>
rung zweymal, den fuͤnften Tag eine ſtaͤrkere. So<lb/>
fuhr er bis den eilften Tag fort, da indeſſen die an-<lb/>
dern Aerzte unaufhoͤrlich ſchryen, daß der Kranke zu<lb/>
viel genaͤhrt werde. <hirendition="#fr">Galenus</hi> hatte beobachtet, daß<lb/>
der Puls etwas an Kraft zugenommen habe, und<lb/>
entſchloß ſich daher, ſeine Gegner durch eine Thatſa-<lb/>
che zu widerlegen. Er gab alſo dem Kranken gar kei-<lb/>
ne Nahrung; da nun um die Zeit des Anfalles die<lb/>
uͤbrigen Aerzte alle beyſammen waren, zog er den<lb/>
Schluͤßel von der Thuͤre. Das Fieber kam — aber<lb/><fwplace="bottom"type="catch">der</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[524/0543]
len. Lieutaud ſahe eine Blutung aus der Harnroͤhre
bey einem Wolluͤſtling. Sie verfallen gerne in Ohnmach-
ten; ſind ſehr mißmuthig und verzagt; ſterben bald
gaͤhlings unvermuthet, bald gehen ihrem Tode oͤftere
und ſchwere Ohnmachten vorher. —
Bey Galenus verfiel ein fuͤnf und zwanzig jaͤh-
riger, hagerer, abgezehrter, trockner Mann aus er-
ſchoͤpfenden Urſachen in ein eintaͤgiges Fieber. Die ſo
genannten Diatritarii *) ließen ihn zwey Tage ohne
alle Nahrung, und hatten es auch ſo beym dritten
Anfalle beſchloſſen. Nun kam aber Galenus dazu;
dieſer ſah, daß der Kranke ſchon voͤllig das Hyppo-
kratiſche Ausſehen hatte, und befuͤrchtete daher eine
Abzehrung oder das hektiſche Fieber; er gab ihm et-
was leicht Nahrhaftes zu ſchluͤrfen; das Fieber kam
zur gewoͤhnlichen Stunde mit einem ſehr kleinen Pulſe
und ſo kalten Gliedern, daß er kaum zu erwaͤrmen
war. Den vierten Tag gab er ihm die naͤmliche Nah-
rung zweymal, den fuͤnften Tag eine ſtaͤrkere. So
fuhr er bis den eilften Tag fort, da indeſſen die an-
dern Aerzte unaufhoͤrlich ſchryen, daß der Kranke zu
viel genaͤhrt werde. Galenus hatte beobachtet, daß
der Puls etwas an Kraft zugenommen habe, und
entſchloß ſich daher, ſeine Gegner durch eine Thatſa-
che zu widerlegen. Er gab alſo dem Kranken gar kei-
ne Nahrung; da nun um die Zeit des Anfalles die
uͤbrigen Aerzte alle beyſammen waren, zog er den
Schluͤßel von der Thuͤre. Das Fieber kam — aber
der
*) Eine Sekte von Aerzten, welche jedem Kranken die er-
ſten drey Tage alle Nahrung entzogen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/543>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.