Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

mermann hielt ihm den flüchtigen Salmiakgeist unter
die Nase, goß denselben in die Nase, schüttete ihm
die stärksten Arzneyen in den Hals; sie kamen aber
von selbst in den Mund zurück, und floßen ihm über
den Bart herunter. Erst nach 24 Stunden bemerk-
te man ein sehr langsames und kleines Athmen. In
den ersten 24 Stunden rieb man ihm von Zeit zu
Zeit Salmiakgeist unter die Nase. Nach diesen 24
Stunden schien er etwas von den Arzneyen zu schlü-
cken. Nach 30 Stunden that er zum ersten Male die
Augen auf; nach 36 Stunden gab er einen kleinen
Laut; nach 6 Tagen war er vollkommen gesund, und
stund bald darauf am Pranger.

Nun sollen Vater und Mutter, Kinder und
Eltern gewaltsam von einander scheiden; der Liebende
soll den Armen der Geliebten, der Reiche seinen
Schätzen, der Wohllebende allem Genuße entrissen
werden! -- -- Unduldsamkeit im Leiden; Mangel
an Trost; Gewissensbangigkeiten; schreckvolle, fey-
erliche Zubereitungen; Jammer und Wehklagen,
oder marternde Gleichgültigkeit der Angehörigen: --
Wenn der Kranke dieß alles fühlt, wie allmächtig
müßen dann seine ohnehin erschütterten Lebenskräfte
zermalmt werden! -- -- Aber nur die Leiden, die
Vorläufer und die Furcht des Todes sind schrecklich.
Der Tod selbst hat uns überfallen, ehe wir's ge-
merkt haben. -- --


Dor

mermann hielt ihm den fluͤchtigen Salmiakgeiſt unter
die Naſe, goß denſelben in die Naſe, ſchuͤttete ihm
die ſtaͤrkſten Arzneyen in den Hals; ſie kamen aber
von ſelbſt in den Mund zuruͤck, und floßen ihm uͤber
den Bart herunter. Erſt nach 24 Stunden bemerk-
te man ein ſehr langſames und kleines Athmen. In
den erſten 24 Stunden rieb man ihm von Zeit zu
Zeit Salmiakgeiſt unter die Naſe. Nach dieſen 24
Stunden ſchien er etwas von den Arzneyen zu ſchluͤ-
cken. Nach 30 Stunden that er zum erſten Male die
Augen auf; nach 36 Stunden gab er einen kleinen
Laut; nach 6 Tagen war er vollkommen geſund, und
ſtund bald darauf am Pranger.

Nun ſollen Vater und Mutter, Kinder und
Eltern gewaltſam von einander ſcheiden; der Liebende
ſoll den Armen der Geliebten, der Reiche ſeinen
Schaͤtzen, der Wohllebende allem Genuße entriſſen
werden! — — Unduldſamkeit im Leiden; Mangel
an Troſt; Gewiſſensbangigkeiten; ſchreckvolle, fey-
erliche Zubereitungen; Jammer und Wehklagen,
oder marternde Gleichguͤltigkeit der Angehoͤrigen: —
Wenn der Kranke dieß alles fuͤhlt, wie allmaͤchtig
muͤßen dann ſeine ohnehin erſchuͤtterten Lebenskraͤfte
zermalmt werden! — — Aber nur die Leiden, die
Vorlaͤufer und die Furcht des Todes ſind ſchrecklich.
Der Tod ſelbſt hat uns uͤberfallen, ehe wir’s ge-
merkt haben. — —


Dor
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0737" n="718"/><hi rendition="#fr">mermann</hi> hielt ihm den flu&#x0364;chtigen Salmiakgei&#x017F;t unter<lb/>
die Na&#x017F;e, goß den&#x017F;elben in die Na&#x017F;e, &#x017F;chu&#x0364;ttete ihm<lb/>
die &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten Arzneyen in den Hals; &#x017F;ie kamen aber<lb/>
von &#x017F;elb&#x017F;t in den Mund zuru&#x0364;ck, und floßen ihm u&#x0364;ber<lb/>
den Bart herunter. Er&#x017F;t nach 24 Stunden bemerk-<lb/>
te man ein &#x017F;ehr lang&#x017F;ames und kleines Athmen. In<lb/>
den er&#x017F;ten 24 Stunden rieb man ihm von Zeit zu<lb/>
Zeit Salmiakgei&#x017F;t unter die Na&#x017F;e. Nach die&#x017F;en 24<lb/>
Stunden &#x017F;chien er etwas von den Arzneyen zu &#x017F;chlu&#x0364;-<lb/>
cken. Nach 30 Stunden that er zum er&#x017F;ten Male die<lb/>
Augen auf; nach 36 Stunden gab er einen kleinen<lb/>
Laut; nach 6 Tagen war er vollkommen ge&#x017F;und, und<lb/>
&#x017F;tund bald darauf am Pranger.</p><lb/>
              <p>Nun &#x017F;ollen Vater und Mutter, Kinder und<lb/>
Eltern gewalt&#x017F;am von einander &#x017F;cheiden; der Liebende<lb/>
&#x017F;oll den Armen der Geliebten, der Reiche &#x017F;einen<lb/>
Scha&#x0364;tzen, der Wohllebende allem Genuße entri&#x017F;&#x017F;en<lb/>
werden! &#x2014; &#x2014; Unduld&#x017F;amkeit im Leiden; Mangel<lb/>
an Tro&#x017F;t; Gewi&#x017F;&#x017F;ensbangigkeiten; &#x017F;chreckvolle, fey-<lb/>
erliche Zubereitungen; Jammer und Wehklagen,<lb/>
oder marternde Gleichgu&#x0364;ltigkeit der Angeho&#x0364;rigen: &#x2014;<lb/>
Wenn der Kranke dieß alles fu&#x0364;hlt, wie allma&#x0364;chtig<lb/>
mu&#x0364;ßen dann &#x017F;eine ohnehin er&#x017F;chu&#x0364;tterten Lebenskra&#x0364;fte<lb/>
zermalmt werden! &#x2014; &#x2014; Aber nur die Leiden, die<lb/>
Vorla&#x0364;ufer und die Furcht des Todes &#x017F;ind &#x017F;chrecklich.<lb/>
Der Tod &#x017F;elb&#x017F;t hat uns u&#x0364;berfallen, ehe wir&#x2019;s ge-<lb/>
merkt haben. &#x2014; &#x2014;</p><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch">Dor</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[718/0737] mermann hielt ihm den fluͤchtigen Salmiakgeiſt unter die Naſe, goß denſelben in die Naſe, ſchuͤttete ihm die ſtaͤrkſten Arzneyen in den Hals; ſie kamen aber von ſelbſt in den Mund zuruͤck, und floßen ihm uͤber den Bart herunter. Erſt nach 24 Stunden bemerk- te man ein ſehr langſames und kleines Athmen. In den erſten 24 Stunden rieb man ihm von Zeit zu Zeit Salmiakgeiſt unter die Naſe. Nach dieſen 24 Stunden ſchien er etwas von den Arzneyen zu ſchluͤ- cken. Nach 30 Stunden that er zum erſten Male die Augen auf; nach 36 Stunden gab er einen kleinen Laut; nach 6 Tagen war er vollkommen geſund, und ſtund bald darauf am Pranger. Nun ſollen Vater und Mutter, Kinder und Eltern gewaltſam von einander ſcheiden; der Liebende ſoll den Armen der Geliebten, der Reiche ſeinen Schaͤtzen, der Wohllebende allem Genuße entriſſen werden! — — Unduldſamkeit im Leiden; Mangel an Troſt; Gewiſſensbangigkeiten; ſchreckvolle, fey- erliche Zubereitungen; Jammer und Wehklagen, oder marternde Gleichguͤltigkeit der Angehoͤrigen: — Wenn der Kranke dieß alles fuͤhlt, wie allmaͤchtig muͤßen dann ſeine ohnehin erſchuͤtterten Lebenskraͤfte zermalmt werden! — — Aber nur die Leiden, die Vorlaͤufer und die Furcht des Todes ſind ſchrecklich. Der Tod ſelbſt hat uns uͤberfallen, ehe wir’s ge- merkt haben. — — Dor

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/737
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 718. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/737>, abgerufen am 21.11.2024.