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Ganswindt, Albert: Handbuch der Färberei und der damit verwandten vorbereitenden und vollendenden Gewerbe. Weimar, 1889.

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§ 19. Künstliche Gespinnstfasern.

Als künstliche Gespinnstfaser bezeichne ich alle diejenigen Fasermateria-
lien, welche auf mechanischem oder chemischem Wege oder auf beiden herge-
stellt werden und welche in ihren physikalischen und chemischen Eigenschaften
der natürlichen Faser soweit nahekommen, daß sie unter Umständen als Er-
satz für dieselbe dienen können. Unter solchen Surrogaten ist nur die
künstliche Wolle oder Kunstwolle von Wichtigkeit. Dieses Fabrikat ver-
dient den Namen Kunstwolle eigentlich nicht, denn es ist keine künstliche
Nachahmung der Wollfaser, sondern vielmehr eine aus Lumpen wiederge-
wonnene Wolle. Die Franzosen bezeichnen sie daher sehr treffend mit laine
de renaissance.
Da heutzutage ein großer Teil unserer Wollwarenfabrikate
zum Teil mit Kunstwolle hergestellt wird, und der Färber nicht selten (wahr-
scheinlich öfter als ihm lieb ist) Kunstwolle in die Hände bekommt, die er
aber wohl selten ohne weiteres für solche halten wird, so scheint es ange-
zeigt, auf dieses Kapitel näher einzugehen.

Zur Erzielung des Fabrikats schlägt man zwei völlig verschiedene Wege
ein, ein mechanisches Verfahren auf trocknem Wege, und ein chemisches Ver-
fahren auf nassem Wege. Man gewinnt so drei verschiedene Arten von
Kunstwolle, welche den Namen Shoddy, Mungo und Extraktwolle führen.

Shoddy und Mungo. Diese beiden Sorten werden aus alten
Wolllumpen dargestellt, welche vor ihrer Verarbeitung aufs sorgfältigste
sortiert werden müssen, indem zunächst alle nicht wollenen Bestandteile aus-
geschieden werden. Die zurückbleibenden Wolllumpen gehen dann durch die
Putzmaschine, wo sie von Staub und anderen anhaftenden Bestandteilen be-
freit werden. Nun folgt ein Sortieren nach den Hauptfarben und dann ein
Zerschneiden in kleine Stücke, wobei gleichzeitig alle nicht wollenen Bestand-
teile (Nähfaden, seidenes Futter, Futterkattun u. dergl.) sorgfältig entfernt
werden. Die so vorsortierten Lumpen gehen dann nochmals durch die Putz-
maschine und werden abermals sortiert. Nach v. Wagner liefern 100 kg
Rohlumpen etwa 70 kg sortierte Lumpen. Diese werden nun auf dem
Lumpen- oder Reißwolf zerrissen und in lose Wollfasern verwandelt. Zur
Shoddywolle werden nur die Lumpen von gestrickten oder lose gewebten,
nicht gewalkten Wollwaren verwendet; die Verarbeitung solcher Lumpen be-
darf keines so sorgfältigen Sortierens und gibt bei einer durchschnittlichen
Ausbeute von beiläufig 50 Prozent eine Kunstwolle von längerem Stapel,
welche vor dem Verspinnen noch einer weiteren Behandlung auf einer Vor-
kratze oder Reißkrempel unterliegt, wobei sie einen kleinen Zusatz von Baumöl
erhält.

Die beste Sorte wird aus reinem Thibet gewonnen und muß recht
lang gerissen sein. Die Langfädigkeit ist für das Spinnen ein großer Vor-
teil. Im Handel findet sich diese Sorte unter der Bezeichnung T1. Die
zweite Sorte, T2 benannt, ist an Qualität etwas geringer und besteht aus
Thibet und Tüchern, die dritte Sorte T3 wird nur aus Tüchern ge-
wonnen. Diese drei sind die guten Sorten des Shoddy. Die geringe-
ren Sorten werden aus alten Möbelstoffen, Damast und grobem Rips
hergestellt. Diese müssen vor ihrer Verarbeitung in einem Schwefelsäure-

Ganswindt, Färberei. 6
§ 19. Künſtliche Geſpinnſtfaſern.

Als künſtliche Geſpinnſtfaſer bezeichne ich alle diejenigen Faſermateria-
lien, welche auf mechaniſchem oder chemiſchem Wege oder auf beiden herge-
ſtellt werden und welche in ihren phyſikaliſchen und chemiſchen Eigenſchaften
der natürlichen Faſer ſoweit nahekommen, daß ſie unter Umſtänden als Er-
ſatz für dieſelbe dienen können. Unter ſolchen Surrogaten iſt nur die
künſtliche Wolle oder Kunſtwolle von Wichtigkeit. Dieſes Fabrikat ver-
dient den Namen Kunſtwolle eigentlich nicht, denn es iſt keine künſtliche
Nachahmung der Wollfaſer, ſondern vielmehr eine aus Lumpen wiederge-
wonnene Wolle. Die Franzoſen bezeichnen ſie daher ſehr treffend mit laine
de renaissance.
Da heutzutage ein großer Teil unſerer Wollwarenfabrikate
zum Teil mit Kunſtwolle hergeſtellt wird, und der Färber nicht ſelten (wahr-
ſcheinlich öfter als ihm lieb iſt) Kunſtwolle in die Hände bekommt, die er
aber wohl ſelten ohne weiteres für ſolche halten wird, ſo ſcheint es ange-
zeigt, auf dieſes Kapitel näher einzugehen.

Zur Erzielung des Fabrikats ſchlägt man zwei völlig verſchiedene Wege
ein, ein mechaniſches Verfahren auf trocknem Wege, und ein chemiſches Ver-
fahren auf naſſem Wege. Man gewinnt ſo drei verſchiedene Arten von
Kunſtwolle, welche den Namen Shoddy, Mungo und Extraktwolle führen.

Shoddy und Mungo. Dieſe beiden Sorten werden aus alten
Wolllumpen dargeſtellt, welche vor ihrer Verarbeitung aufs ſorgfältigſte
ſortiert werden müſſen, indem zunächſt alle nicht wollenen Beſtandteile aus-
geſchieden werden. Die zurückbleibenden Wolllumpen gehen dann durch die
Putzmaſchine, wo ſie von Staub und anderen anhaftenden Beſtandteilen be-
freit werden. Nun folgt ein Sortieren nach den Hauptfarben und dann ein
Zerſchneiden in kleine Stücke, wobei gleichzeitig alle nicht wollenen Beſtand-
teile (Nähfaden, ſeidenes Futter, Futterkattun u. dergl.) ſorgfältig entfernt
werden. Die ſo vorſortierten Lumpen gehen dann nochmals durch die Putz-
maſchine und werden abermals ſortiert. Nach v. Wagner liefern 100 kg
Rohlumpen etwa 70 kg ſortierte Lumpen. Dieſe werden nun auf dem
Lumpen- oder Reißwolf zerriſſen und in loſe Wollfaſern verwandelt. Zur
Shoddywolle werden nur die Lumpen von geſtrickten oder loſe gewebten,
nicht gewalkten Wollwaren verwendet; die Verarbeitung ſolcher Lumpen be-
darf keines ſo ſorgfältigen Sortierens und gibt bei einer durchſchnittlichen
Ausbeute von beiläufig 50 Prozent eine Kunſtwolle von längerem Stapel,
welche vor dem Verſpinnen noch einer weiteren Behandlung auf einer Vor-
kratze oder Reißkrempel unterliegt, wobei ſie einen kleinen Zuſatz von Baumöl
erhält.

Die beſte Sorte wird aus reinem Thibet gewonnen und muß recht
lang geriſſen ſein. Die Langfädigkeit iſt für das Spinnen ein großer Vor-
teil. Im Handel findet ſich dieſe Sorte unter der Bezeichnung T1. Die
zweite Sorte, T2 benannt, iſt an Qualität etwas geringer und beſteht aus
Thibet und Tüchern, die dritte Sorte T3 wird nur aus Tüchern ge-
wonnen. Dieſe drei ſind die guten Sorten des Shoddy. Die geringe-
ren Sorten werden aus alten Möbelſtoffen, Damaſt und grobem Rips
hergeſtellt. Dieſe müſſen vor ihrer Verarbeitung in einem Schwefelſäure-

Ganswindt, Färberei. 6
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[81/0107] § 19. Künſtliche Geſpinnſtfaſern. Als künſtliche Geſpinnſtfaſer bezeichne ich alle diejenigen Faſermateria- lien, welche auf mechaniſchem oder chemiſchem Wege oder auf beiden herge- ſtellt werden und welche in ihren phyſikaliſchen und chemiſchen Eigenſchaften der natürlichen Faſer ſoweit nahekommen, daß ſie unter Umſtänden als Er- ſatz für dieſelbe dienen können. Unter ſolchen Surrogaten iſt nur die künſtliche Wolle oder Kunſtwolle von Wichtigkeit. Dieſes Fabrikat ver- dient den Namen Kunſtwolle eigentlich nicht, denn es iſt keine künſtliche Nachahmung der Wollfaſer, ſondern vielmehr eine aus Lumpen wiederge- wonnene Wolle. Die Franzoſen bezeichnen ſie daher ſehr treffend mit laine de renaissance. Da heutzutage ein großer Teil unſerer Wollwarenfabrikate zum Teil mit Kunſtwolle hergeſtellt wird, und der Färber nicht ſelten (wahr- ſcheinlich öfter als ihm lieb iſt) Kunſtwolle in die Hände bekommt, die er aber wohl ſelten ohne weiteres für ſolche halten wird, ſo ſcheint es ange- zeigt, auf dieſes Kapitel näher einzugehen. Zur Erzielung des Fabrikats ſchlägt man zwei völlig verſchiedene Wege ein, ein mechaniſches Verfahren auf trocknem Wege, und ein chemiſches Ver- fahren auf naſſem Wege. Man gewinnt ſo drei verſchiedene Arten von Kunſtwolle, welche den Namen Shoddy, Mungo und Extraktwolle führen. Shoddy und Mungo. Dieſe beiden Sorten werden aus alten Wolllumpen dargeſtellt, welche vor ihrer Verarbeitung aufs ſorgfältigſte ſortiert werden müſſen, indem zunächſt alle nicht wollenen Beſtandteile aus- geſchieden werden. Die zurückbleibenden Wolllumpen gehen dann durch die Putzmaſchine, wo ſie von Staub und anderen anhaftenden Beſtandteilen be- freit werden. Nun folgt ein Sortieren nach den Hauptfarben und dann ein Zerſchneiden in kleine Stücke, wobei gleichzeitig alle nicht wollenen Beſtand- teile (Nähfaden, ſeidenes Futter, Futterkattun u. dergl.) ſorgfältig entfernt werden. Die ſo vorſortierten Lumpen gehen dann nochmals durch die Putz- maſchine und werden abermals ſortiert. Nach v. Wagner liefern 100 kg Rohlumpen etwa 70 kg ſortierte Lumpen. Dieſe werden nun auf dem Lumpen- oder Reißwolf zerriſſen und in loſe Wollfaſern verwandelt. Zur Shoddywolle werden nur die Lumpen von geſtrickten oder loſe gewebten, nicht gewalkten Wollwaren verwendet; die Verarbeitung ſolcher Lumpen be- darf keines ſo ſorgfältigen Sortierens und gibt bei einer durchſchnittlichen Ausbeute von beiläufig 50 Prozent eine Kunſtwolle von längerem Stapel, welche vor dem Verſpinnen noch einer weiteren Behandlung auf einer Vor- kratze oder Reißkrempel unterliegt, wobei ſie einen kleinen Zuſatz von Baumöl erhält. Die beſte Sorte wird aus reinem Thibet gewonnen und muß recht lang geriſſen ſein. Die Langfädigkeit iſt für das Spinnen ein großer Vor- teil. Im Handel findet ſich dieſe Sorte unter der Bezeichnung T1. Die zweite Sorte, T2 benannt, iſt an Qualität etwas geringer und beſteht aus Thibet und Tüchern, die dritte Sorte T3 wird nur aus Tüchern ge- wonnen. Dieſe drei ſind die guten Sorten des Shoddy. Die geringe- ren Sorten werden aus alten Möbelſtoffen, Damaſt und grobem Rips hergeſtellt. Dieſe müſſen vor ihrer Verarbeitung in einem Schwefelſäure- Ganswindt, Färberei. 6

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Zitationshilfe: Ganswindt, Albert: Handbuch der Färberei und der damit verwandten vorbereitenden und vollendenden Gewerbe. Weimar, 1889, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ganswindt_faerberei_1889/107>, abgerufen am 23.11.2024.