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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

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Ueber die Prüfung der Fähigkeiten.
diesem Alter für Verrichtungen geben, bey denen
diese Fähigkeiten merklich würden? Es geht mit
der Bildung der Geister, wie mit der Entstehung
der Körper. Wir werden diese leztern nicht eher
gewahr, als bis sie schon eine merkliche Größe
erreicht haben, und schon lange über die Epoque
hinaus sind, wo sich ihre Bestandtheile zusam-
menfügten, und durch ihre Lage und ihre Gestalt
die Beschaffenheit und Erscheinungen des künfti-
gen Dinges bestimmten. Eben so erkennen wir
die Vollkommenheiten eines Geistes erst alsdann,
wann sie an wichtigen Gegenständen geübt wer-
den; aber dann ist es gemeiniglich schon zu spät,
die Wahl ist geschehen, und nur der glückliche
oder unglückliche Erfolg läßt uns auf die Anlage
der Seele schließen, die diesen Gegenständen an-
gemessen war. In der That, wie viel Kenntniß
der Seele und was für eine feine Beobachtung ge-
hört dazu, wenn man in kleinen Wirkungen eben
die Kraft, die große hervorbringen könnte, in
nichtswürdigen Beschäfftigungen das Genie, und
selbst in Ausschweifungen und Fehlern die Vor-

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Ueber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten.
dieſem Alter fuͤr Verrichtungen geben, bey denen
dieſe Faͤhigkeiten merklich wuͤrden? Es geht mit
der Bildung der Geiſter, wie mit der Entſtehung
der Koͤrper. Wir werden dieſe leztern nicht eher
gewahr, als bis ſie ſchon eine merkliche Groͤße
erreicht haben, und ſchon lange uͤber die Epoque
hinaus ſind, wo ſich ihre Beſtandtheile zuſam-
menfuͤgten, und durch ihre Lage und ihre Geſtalt
die Beſchaffenheit und Erſcheinungen des kuͤnfti-
gen Dinges beſtimmten. Eben ſo erkennen wir
die Vollkommenheiten eines Geiſtes erſt alsdann,
wann ſie an wichtigen Gegenſtaͤnden geuͤbt wer-
den; aber dann iſt es gemeiniglich ſchon zu ſpaͤt,
die Wahl iſt geſchehen, und nur der gluͤckliche
oder ungluͤckliche Erfolg laͤßt uns auf die Anlage
der Seele ſchließen, die dieſen Gegenſtaͤnden an-
gemeſſen war. In der That, wie viel Kenntniß
der Seele und was fuͤr eine feine Beobachtung ge-
hoͤrt dazu, wenn man in kleinen Wirkungen eben
die Kraft, die große hervorbringen koͤnnte, in
nichtswuͤrdigen Beſchaͤfftigungen das Genie, und
ſelbſt in Ausſchweifungen und Fehlern die Vor-

A 5
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[9/0015] Ueber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten. dieſem Alter fuͤr Verrichtungen geben, bey denen dieſe Faͤhigkeiten merklich wuͤrden? Es geht mit der Bildung der Geiſter, wie mit der Entſtehung der Koͤrper. Wir werden dieſe leztern nicht eher gewahr, als bis ſie ſchon eine merkliche Groͤße erreicht haben, und ſchon lange uͤber die Epoque hinaus ſind, wo ſich ihre Beſtandtheile zuſam- menfuͤgten, und durch ihre Lage und ihre Geſtalt die Beſchaffenheit und Erſcheinungen des kuͤnfti- gen Dinges beſtimmten. Eben ſo erkennen wir die Vollkommenheiten eines Geiſtes erſt alsdann, wann ſie an wichtigen Gegenſtaͤnden geuͤbt wer- den; aber dann iſt es gemeiniglich ſchon zu ſpaͤt, die Wahl iſt geſchehen, und nur der gluͤckliche oder ungluͤckliche Erfolg laͤßt uns auf die Anlage der Seele ſchließen, die dieſen Gegenſtaͤnden an- gemeſſen war. In der That, wie viel Kenntniß der Seele und was fuͤr eine feine Beobachtung ge- hoͤrt dazu, wenn man in kleinen Wirkungen eben die Kraft, die große hervorbringen koͤnnte, in nichtswuͤrdigen Beſchaͤfftigungen das Genie, und ſelbſt in Ausſchweifungen und Fehlern die Vor- A 5

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Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/15>, abgerufen am 29.03.2024.