wir izt wirklich vor Augen haben, alle die Ein- richtungen abgerechnet, die schon den Geist der alten Zeit in die unsrige verpflanzen; würden wir wohl auf viele von den Regeln gekommen seyn, die izt die klassischen Schriftsteller der neuern be- obachten?
Man sehe nur, wie genau die ganzen For- men unserer poetischen Werke zu der Lage und Verfassung und Geschichte von Griechenland, und wie wenig sie zu der unsrigen passen! Bey jener machen sie einen Stein des ganzen Gebäudes aus, bey uns sind sie ein angeflickter Zierrath. Ihre Epopee enthielt ihre älteste Geschichte, den Ur- sprung ihrer Städte und ihrer großen Geschlech- ter. Was der Dichter dort in eine zusammen- hängende Erzählung brachte, das hörte stückweise schon das Kind an der Brust seiner Mutter, das besang der Jüngling an den Festen der Götter und Helden, davon redete der Sachwalter vor Gerichte, der Patriot im Rathe, der Herrführer im Felde. Ihre Oden, ihre Schauspiele, der Stoff und die Form derselben, waren in die be-
L 2
der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
wir izt wirklich vor Augen haben, alle die Ein- richtungen abgerechnet, die ſchon den Geiſt der alten Zeit in die unſrige verpflanzen; wuͤrden wir wohl auf viele von den Regeln gekommen ſeyn, die izt die klaſſiſchen Schriftſteller der neuern be- obachten?
Man ſehe nur, wie genau die ganzen For- men unſerer poetiſchen Werke zu der Lage und Verfaſſung und Geſchichte von Griechenland, und wie wenig ſie zu der unſrigen paſſen! Bey jener machen ſie einen Stein des ganzen Gebaͤudes aus, bey uns ſind ſie ein angeflickter Zierrath. Ihre Epopee enthielt ihre aͤlteſte Geſchichte, den Ur- ſprung ihrer Staͤdte und ihrer großen Geſchlech- ter. Was der Dichter dort in eine zuſammen- haͤngende Erzaͤhlung brachte, das hoͤrte ſtuͤckweiſe ſchon das Kind an der Bruſt ſeiner Mutter, das beſang der Juͤngling an den Feſten der Goͤtter und Helden, davon redete der Sachwalter vor Gerichte, der Patriot im Rathe, der Herrfuͤhrer im Felde. Ihre Oden, ihre Schauſpiele, der Stoff und die Form derſelben, waren in die be-
L 2
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0169"n="163"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.</hi></fw><lb/>
wir izt wirklich vor Augen haben, alle die Ein-<lb/>
richtungen abgerechnet, die ſchon den Geiſt der<lb/>
alten Zeit in die unſrige verpflanzen; wuͤrden wir<lb/>
wohl auf viele von den Regeln gekommen ſeyn,<lb/>
die izt die klaſſiſchen Schriftſteller der neuern be-<lb/>
obachten?</p><lb/><p>Man ſehe nur, wie genau die ganzen For-<lb/>
men unſerer poetiſchen Werke zu der Lage und<lb/>
Verfaſſung und Geſchichte von Griechenland, und<lb/>
wie wenig ſie zu der unſrigen paſſen! Bey jener<lb/>
machen ſie einen Stein des ganzen Gebaͤudes aus,<lb/>
bey uns ſind ſie ein angeflickter Zierrath. Ihre<lb/>
Epopee enthielt ihre aͤlteſte Geſchichte, den Ur-<lb/>ſprung ihrer Staͤdte und ihrer großen Geſchlech-<lb/>
ter. Was der Dichter dort in eine zuſammen-<lb/>
haͤngende Erzaͤhlung brachte, das hoͤrte ſtuͤckweiſe<lb/>ſchon das Kind an der Bruſt ſeiner Mutter, das<lb/>
beſang der Juͤngling an den Feſten der Goͤtter<lb/>
und Helden, davon redete der Sachwalter vor<lb/>
Gerichte, der Patriot im Rathe, der Herrfuͤhrer<lb/>
im Felde. Ihre Oden, ihre Schauſpiele, der<lb/>
Stoff und die Form derſelben, waren in die be-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">L 2</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[163/0169]
der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
wir izt wirklich vor Augen haben, alle die Ein-
richtungen abgerechnet, die ſchon den Geiſt der
alten Zeit in die unſrige verpflanzen; wuͤrden wir
wohl auf viele von den Regeln gekommen ſeyn,
die izt die klaſſiſchen Schriftſteller der neuern be-
obachten?
Man ſehe nur, wie genau die ganzen For-
men unſerer poetiſchen Werke zu der Lage und
Verfaſſung und Geſchichte von Griechenland, und
wie wenig ſie zu der unſrigen paſſen! Bey jener
machen ſie einen Stein des ganzen Gebaͤudes aus,
bey uns ſind ſie ein angeflickter Zierrath. Ihre
Epopee enthielt ihre aͤlteſte Geſchichte, den Ur-
ſprung ihrer Staͤdte und ihrer großen Geſchlech-
ter. Was der Dichter dort in eine zuſammen-
haͤngende Erzaͤhlung brachte, das hoͤrte ſtuͤckweiſe
ſchon das Kind an der Bruſt ſeiner Mutter, das
beſang der Juͤngling an den Feſten der Goͤtter
und Helden, davon redete der Sachwalter vor
Gerichte, der Patriot im Rathe, der Herrfuͤhrer
im Felde. Ihre Oden, ihre Schauſpiele, der
Stoff und die Form derſelben, waren in die be-
L 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/169>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.