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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

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über das Interessirende.
schichte, so gräßliche Ausbrüche der Wuth ver-
tragen, sie sahen lieber eine Medea, die, wenn
gleich durch Grausamkeiten, sich über ihr Un-
glück erhebt, als eine Niobe, die weinend unter
demselben zu Boden sinkt. Dieses scheint der
Fall bey uns zu seyn; wir wollen mehr wehmü-
thige als starke Empfindungen sehen; ein Fei-
ger, der aber sonst ein guter Mann und un-
glücklich ist, findet mehr Mitleiden, als ein
Tapferer, der durch das Unglück wild und un-
bändig worden. Dieß kömmt also daher, weil
der männliche Geist die muthige Widersetzung
des Zornigen billiget, und die Ohnmacht des
Niedergeschlagenen verachtet; der weibliche Cha-
rakter hingegen den Ungestüm des Zorns scheuet,
und hingegen das Sanfte der Betrübniß gut
heißt. Dieß hängt also mit der Sympathie der
moralischen Empfindungen zusammen, und da-
von werden wir gleich reden.

4) An allen glücklichen und unglücklichen
Vorfällen andrer Menschen können wir mehr An-
theil nehmen, wann sie erwartet werden, als

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uͤber das Intereſſirende.
ſchichte, ſo graͤßliche Ausbruͤche der Wuth ver-
tragen, ſie ſahen lieber eine Medea, die, wenn
gleich durch Grauſamkeiten, ſich uͤber ihr Un-
gluͤck erhebt, als eine Niobe, die weinend unter
demſelben zu Boden ſinkt. Dieſes ſcheint der
Fall bey uns zu ſeyn; wir wollen mehr wehmuͤ-
thige als ſtarke Empfindungen ſehen; ein Fei-
ger, der aber ſonſt ein guter Mann und un-
gluͤcklich iſt, findet mehr Mitleiden, als ein
Tapferer, der durch das Ungluͤck wild und un-
baͤndig worden. Dieß koͤmmt alſo daher, weil
der maͤnnliche Geiſt die muthige Widerſetzung
des Zornigen billiget, und die Ohnmacht des
Niedergeſchlagenen verachtet; der weibliche Cha-
rakter hingegen den Ungeſtuͤm des Zorns ſcheuet,
und hingegen das Sanfte der Betruͤbniß gut
heißt. Dieß haͤngt alſo mit der Sympathie der
moraliſchen Empfindungen zuſammen, und da-
von werden wir gleich reden.

4) An allen gluͤcklichen und ungluͤcklichen
Vorfaͤllen andrer Menſchen koͤnnen wir mehr An-
theil nehmen, wann ſie erwartet werden, als

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[327/0333] uͤber das Intereſſirende. ſchichte, ſo graͤßliche Ausbruͤche der Wuth ver- tragen, ſie ſahen lieber eine Medea, die, wenn gleich durch Grauſamkeiten, ſich uͤber ihr Un- gluͤck erhebt, als eine Niobe, die weinend unter demſelben zu Boden ſinkt. Dieſes ſcheint der Fall bey uns zu ſeyn; wir wollen mehr wehmuͤ- thige als ſtarke Empfindungen ſehen; ein Fei- ger, der aber ſonſt ein guter Mann und un- gluͤcklich iſt, findet mehr Mitleiden, als ein Tapferer, der durch das Ungluͤck wild und un- baͤndig worden. Dieß koͤmmt alſo daher, weil der maͤnnliche Geiſt die muthige Widerſetzung des Zornigen billiget, und die Ohnmacht des Niedergeſchlagenen verachtet; der weibliche Cha- rakter hingegen den Ungeſtuͤm des Zorns ſcheuet, und hingegen das Sanfte der Betruͤbniß gut heißt. Dieß haͤngt alſo mit der Sympathie der moraliſchen Empfindungen zuſammen, und da- von werden wir gleich reden. 4) An allen gluͤcklichen und ungluͤcklichen Vorfaͤllen andrer Menſchen koͤnnen wir mehr An- theil nehmen, wann ſie erwartet werden, als X 4

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Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/333>, abgerufen am 12.05.2024.