Allgemein wird es seyn, daß eine Leiden- schaft, die auf Wohlwollen gegründet ist, mehr Theilnehmung erregt, als eine, welche aus Haß entsteht; die Elektra flößt uns bey weitem nicht so sehr ihren Haß gegen ihre Mutter ein, als sie uns ihre Liebe zu ihrem Bruder einflößt. Allge- mein wird es seyn, daß eine Leidenschaft, die ein Mensch bloß wegen seiner eignen glücklichen oder unglücklichen Veränderungen empfindet, weniger Theilnehmung erregt, als die, welche er über das Schicksal andrer, die unter ihm stehen, oder für welche er zu sorgen hat, empfindet. Ein Vater, der seine unglücklichen Kinder, ein Bür- ger, der sein Land beweint, fodert mehr Mitleid, als ein Mensch, der seine eigne Armuth oder sei- ne Krankheit beklagt. Allgemein wird es seyn, daß Zorn nur bey einem durch Ungerechtigkeit erlittnen Unglücke gebilliget und mit empfunden wird.
Aber verschieden werden die Meynungen über die Größe der Beleidigungen seyn, und über die Härte der Ahndung, die bey jeder Belei-
uͤber das Intereſſirende.
Allgemein wird es ſeyn, daß eine Leiden- ſchaft, die auf Wohlwollen gegruͤndet iſt, mehr Theilnehmung erregt, als eine, welche aus Haß entſteht; die Elektra floͤßt uns bey weitem nicht ſo ſehr ihren Haß gegen ihre Mutter ein, als ſie uns ihre Liebe zu ihrem Bruder einfloͤßt. Allge- mein wird es ſeyn, daß eine Leidenſchaft, die ein Menſch bloß wegen ſeiner eignen gluͤcklichen oder ungluͤcklichen Veraͤnderungen empfindet, weniger Theilnehmung erregt, als die, welche er uͤber das Schickſal andrer, die unter ihm ſtehen, oder fuͤr welche er zu ſorgen hat, empfindet. Ein Vater, der ſeine ungluͤcklichen Kinder, ein Buͤr- ger, der ſein Land beweint, fodert mehr Mitleid, als ein Menſch, der ſeine eigne Armuth oder ſei- ne Krankheit beklagt. Allgemein wird es ſeyn, daß Zorn nur bey einem durch Ungerechtigkeit erlittnen Ungluͤcke gebilliget und mit empfunden wird.
Aber verſchieden werden die Meynungen uͤber die Groͤße der Beleidigungen ſeyn, und uͤber die Haͤrte der Ahndung, die bey jeder Belei-
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uͤber das Intereſſirende.
Allgemein wird es ſeyn, daß eine Leiden-
ſchaft, die auf Wohlwollen gegruͤndet iſt, mehr
Theilnehmung erregt, als eine, welche aus Haß
entſteht; die Elektra floͤßt uns bey weitem nicht
ſo ſehr ihren Haß gegen ihre Mutter ein, als ſie
uns ihre Liebe zu ihrem Bruder einfloͤßt. Allge-
mein wird es ſeyn, daß eine Leidenſchaft, die
ein Menſch bloß wegen ſeiner eignen gluͤcklichen
oder ungluͤcklichen Veraͤnderungen empfindet,
weniger Theilnehmung erregt, als die, welche er
uͤber das Schickſal andrer, die unter ihm ſtehen,
oder fuͤr welche er zu ſorgen hat, empfindet. Ein
Vater, der ſeine ungluͤcklichen Kinder, ein Buͤr-
ger, der ſein Land beweint, fodert mehr Mitleid,
als ein Menſch, der ſeine eigne Armuth oder ſei-
ne Krankheit beklagt. Allgemein wird es ſeyn,
daß Zorn nur bey einem durch Ungerechtigkeit
erlittnen Ungluͤcke gebilliget und mit empfunden
wird.
Aber verſchieden werden die Meynungen
uͤber die Groͤße der Beleidigungen ſeyn, und
uͤber die Haͤrte der Ahndung, die bey jeder Belei-
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/337>, abgerufen am 21.11.2024.
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