Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite
Einige Gedanken

Im Grunde war dieß eben der Vortheil, den
wir von diesem Streite ziehen konnten. Eine
einfache sinnliche Leidenschaft kann thierisch seyn,
und ist es immer mehr oder weniger; eine zwie-
fache entgegengesezte muß auf gewisse Weise ver-
nünftig werden, (oder der Mensch ist verloren,)
durch die Arbeit, die die Seele selbst dabey an-
wenden muß, sie aus einander oder in Vereini-
gung zu bringen. In dem ersten Falle denkt der
Mensch wenig. Es ist bloßes dunkles Gefühl
bey ihm: und wer will dieses dunkle Gefühl
schildern? wer will sich darein versezen? In dem
andern denkt er nothwendig Etwas, seine Em-
pfindungen, die bloße Eindrücke waren, welche
auf die Seele geschahen, müssen nun von ihr be-
arbeitet, geändert, und so zu sagen in die Form
gebracht werden, daß sie bey einander Platz ha-
ben. Diese Ideen zu beschreiben, dazu ist die
Sprache gemacht, das kann allein der Vorsatz
des Dichters oder Redners seyn.

Es giebt demungeachtet noch eine reinere
oder höhere Vernunft, als die, welche bloß aus

Einige Gedanken

Im Grunde war dieß eben der Vortheil, den
wir von dieſem Streite ziehen konnten. Eine
einfache ſinnliche Leidenſchaft kann thieriſch ſeyn,
und iſt es immer mehr oder weniger; eine zwie-
fache entgegengeſezte muß auf gewiſſe Weiſe ver-
nuͤnftig werden, (oder der Menſch iſt verloren,)
durch die Arbeit, die die Seele ſelbſt dabey an-
wenden muß, ſie aus einander oder in Vereini-
gung zu bringen. In dem erſten Falle denkt der
Menſch wenig. Es iſt bloßes dunkles Gefuͤhl
bey ihm: und wer will dieſes dunkle Gefuͤhl
ſchildern? wer will ſich darein verſezen? In dem
andern denkt er nothwendig Etwas, ſeine Em-
pfindungen, die bloße Eindruͤcke waren, welche
auf die Seele geſchahen, muͤſſen nun von ihr be-
arbeitet, geaͤndert, und ſo zu ſagen in die Form
gebracht werden, daß ſie bey einander Platz ha-
ben. Dieſe Ideen zu beſchreiben, dazu iſt die
Sprache gemacht, das kann allein der Vorſatz
des Dichters oder Redners ſeyn.

Es giebt demungeachtet noch eine reinere
oder hoͤhere Vernunft, als die, welche bloß aus

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0354" n="348"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Einige Gedanken</hi> </fw><lb/>
        <p>Im Grunde war dieß eben der Vortheil, den<lb/>
wir von die&#x017F;em Streite ziehen konnten. Eine<lb/>
einfache &#x017F;innliche Leiden&#x017F;chaft kann thieri&#x017F;ch &#x017F;eyn,<lb/>
und i&#x017F;t es immer mehr oder weniger; eine zwie-<lb/>
fache entgegenge&#x017F;ezte muß auf gewi&#x017F;&#x017F;e Wei&#x017F;e ver-<lb/>
nu&#x0364;nftig werden, (oder der Men&#x017F;ch i&#x017F;t verloren,)<lb/>
durch die Arbeit, die die Seele &#x017F;elb&#x017F;t dabey an-<lb/>
wenden muß, &#x017F;ie aus einander oder in Vereini-<lb/>
gung zu bringen. In dem er&#x017F;ten Falle denkt der<lb/>
Men&#x017F;ch wenig. Es i&#x017F;t bloßes dunkles Gefu&#x0364;hl<lb/>
bey ihm: und wer will die&#x017F;es dunkle Gefu&#x0364;hl<lb/>
&#x017F;childern? wer will &#x017F;ich darein ver&#x017F;ezen? In dem<lb/>
andern denkt er nothwendig Etwas, &#x017F;eine Em-<lb/>
pfindungen, die bloße Eindru&#x0364;cke waren, welche<lb/>
auf die Seele ge&#x017F;chahen, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en nun von ihr be-<lb/>
arbeitet, gea&#x0364;ndert, und &#x017F;o zu &#x017F;agen in die Form<lb/>
gebracht werden, daß &#x017F;ie bey einander Platz ha-<lb/>
ben. Die&#x017F;e Ideen zu be&#x017F;chreiben, dazu i&#x017F;t die<lb/>
Sprache gemacht, das kann allein der Vor&#x017F;atz<lb/>
des Dichters oder Redners &#x017F;eyn.</p><lb/>
        <p>Es giebt demungeachtet noch eine reinere<lb/>
oder ho&#x0364;here Vernunft, als die, welche bloß aus<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[348/0354] Einige Gedanken Im Grunde war dieß eben der Vortheil, den wir von dieſem Streite ziehen konnten. Eine einfache ſinnliche Leidenſchaft kann thieriſch ſeyn, und iſt es immer mehr oder weniger; eine zwie- fache entgegengeſezte muß auf gewiſſe Weiſe ver- nuͤnftig werden, (oder der Menſch iſt verloren,) durch die Arbeit, die die Seele ſelbſt dabey an- wenden muß, ſie aus einander oder in Vereini- gung zu bringen. In dem erſten Falle denkt der Menſch wenig. Es iſt bloßes dunkles Gefuͤhl bey ihm: und wer will dieſes dunkle Gefuͤhl ſchildern? wer will ſich darein verſezen? In dem andern denkt er nothwendig Etwas, ſeine Em- pfindungen, die bloße Eindruͤcke waren, welche auf die Seele geſchahen, muͤſſen nun von ihr be- arbeitet, geaͤndert, und ſo zu ſagen in die Form gebracht werden, daß ſie bey einander Platz ha- ben. Dieſe Ideen zu beſchreiben, dazu iſt die Sprache gemacht, das kann allein der Vorſatz des Dichters oder Redners ſeyn. Es giebt demungeachtet noch eine reinere oder hoͤhere Vernunft, als die, welche bloß aus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/354
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/354>, abgerufen am 21.11.2024.