die Stärke der Neigungen oder Empfindungen, nur nach den gegenseitigen Eindrücken oder Be- gierden, über welche sie die Oberhand behalten. Der Hausvater konnte seinen Sohn und seine Tochter lieben, so stark er immer wollte; daß er ihn liebte, das konnte bekannt seyn, aber wie innigst seine Zärtlichkeit sey, wie weit er andre Väter darinn übertreffe, das konnte man erst sehen, da sein Sohn ausschweifend und seine Tochter zurückhaltend wurde.
Diderot redet von nichts anders, als ei- nem solchen Streite, wann er den Kontrast zwi- schen dem Charakter und den Umständen so sehr empfiehlt. Was ist denn der Charakter? Es sind diejenigen Neigungen und Abneigungen, die ebenfalls bey gewissen Vorfällen und Gelegenhei- ten entstanden sind, aber die sich nun einmal festgesezt haben, die fortdauernd sind. Was sind die Umstände? Es sind die jezt vorfallenden Begebenheiten, welche Gelegenheit zu neuen Em- pfindungen und Gesinnungen geben. Was wird also der Mann seyn, dessen Charakter mit seinen
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uͤber das Intereſſirende.
die Staͤrke der Neigungen oder Empfindungen, nur nach den gegenſeitigen Eindruͤcken oder Be- gierden, uͤber welche ſie die Oberhand behalten. Der Hausvater konnte ſeinen Sohn und ſeine Tochter lieben, ſo ſtark er immer wollte; daß er ihn liebte, das konnte bekannt ſeyn, aber wie innigſt ſeine Zaͤrtlichkeit ſey, wie weit er andre Vaͤter darinn uͤbertreffe, das konnte man erſt ſehen, da ſein Sohn ausſchweifend und ſeine Tochter zuruͤckhaltend wurde.
Diderot redet von nichts anders, als ei- nem ſolchen Streite, wann er den Kontraſt zwi- ſchen dem Charakter und den Umſtaͤnden ſo ſehr empfiehlt. Was iſt denn der Charakter? Es ſind diejenigen Neigungen und Abneigungen, die ebenfalls bey gewiſſen Vorfaͤllen und Gelegenhei- ten entſtanden ſind, aber die ſich nun einmal feſtgeſezt haben, die fortdauernd ſind. Was ſind die Umſtaͤnde? Es ſind die jezt vorfallenden Begebenheiten, welche Gelegenheit zu neuen Em- pfindungen und Geſinnungen geben. Was wird alſo der Mann ſeyn, deſſen Charakter mit ſeinen
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uͤber das Intereſſirende.
die Staͤrke der Neigungen oder Empfindungen,
nur nach den gegenſeitigen Eindruͤcken oder Be-
gierden, uͤber welche ſie die Oberhand behalten.
Der Hausvater konnte ſeinen Sohn und ſeine
Tochter lieben, ſo ſtark er immer wollte; daß er
ihn liebte, das konnte bekannt ſeyn, aber wie
innigſt ſeine Zaͤrtlichkeit ſey, wie weit er andre
Vaͤter darinn uͤbertreffe, das konnte man erſt
ſehen, da ſein Sohn ausſchweifend und ſeine
Tochter zuruͤckhaltend wurde.
Diderot redet von nichts anders, als ei-
nem ſolchen Streite, wann er den Kontraſt zwi-
ſchen dem Charakter und den Umſtaͤnden ſo ſehr
empfiehlt. Was iſt denn der Charakter? Es
ſind diejenigen Neigungen und Abneigungen, die
ebenfalls bey gewiſſen Vorfaͤllen und Gelegenhei-
ten entſtanden ſind, aber die ſich nun einmal
feſtgeſezt haben, die fortdauernd ſind. Was
ſind die Umſtaͤnde? Es ſind die jezt vorfallenden
Begebenheiten, welche Gelegenheit zu neuen Em-
pfindungen und Geſinnungen geben. Was wird
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/361>, abgerufen am 21.11.2024.
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