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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

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über das Interessirende.
Nation wächst. Was sind in Zeiten der Barba-
rey die Gedichte und Erzählungen, durch welche
man rühren will, was sind jezt noch die Gedichte
und Erzählungen, die man für den Pöbel macht?
Bloße simple Mordgeschichte. Man häuft Un-
glücksfälle auf Unglücksfälle: und wenn man den
Eindruck noch durch etwas verstärken will; so ist
es durch das Wunderbare der Vorfälle. In un-
sern besten Tragödien und Romanen hingegen,
wenn der Held unglücklich werden soll, sehen wir
doch das Gemälde seiner Glückseligkeit einen we-
sentlichen und wichtigen Theil ausmachen. Soll
eine Familie zerrüttet werden: man führt uns erst
in dieselbe ein, da sie noch einig und glücklich ist;
oder man macht uns doch mit diesem Zustande be-
kannt. Sollen einem Vater seine Kinder unge-
horsam, soll einem Liebhaber seine Geliebte untren
werden: man lehrt uns erst, was es heisse, ein
Vater guter Kinder, und der Treue seiner Gelieb-
ten versichert zu seyn.

4) Alle Leidenschaften, oder vielmehr dieje-
nige Art jeder Leidenschaft, bey welcher eine Thä-

uͤber das Intereſſirende.
Nation waͤchſt. Was ſind in Zeiten der Barba-
rey die Gedichte und Erzaͤhlungen, durch welche
man ruͤhren will, was ſind jezt noch die Gedichte
und Erzaͤhlungen, die man fuͤr den Poͤbel macht?
Bloße ſimple Mordgeſchichte. Man haͤuft Un-
gluͤcksfaͤlle auf Ungluͤcksfaͤlle: und wenn man den
Eindruck noch durch etwas verſtaͤrken will; ſo iſt
es durch das Wunderbare der Vorfaͤlle. In un-
ſern beſten Tragoͤdien und Romanen hingegen,
wenn der Held ungluͤcklich werden ſoll, ſehen wir
doch das Gemaͤlde ſeiner Gluͤckſeligkeit einen we-
ſentlichen und wichtigen Theil ausmachen. Soll
eine Familie zerruͤttet werden: man fuͤhrt uns erſt
in dieſelbe ein, da ſie noch einig und gluͤcklich iſt;
oder man macht uns doch mit dieſem Zuſtande be-
kannt. Sollen einem Vater ſeine Kinder unge-
horſam, ſoll einem Liebhaber ſeine Geliebte untren
werden: man lehrt uns erſt, was es heiſſe, ein
Vater guter Kinder, und der Treue ſeiner Gelieb-
ten verſichert zu ſeyn.

4) Alle Leidenſchaften, oder vielmehr dieje-
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[367/0373] uͤber das Intereſſirende. Nation waͤchſt. Was ſind in Zeiten der Barba- rey die Gedichte und Erzaͤhlungen, durch welche man ruͤhren will, was ſind jezt noch die Gedichte und Erzaͤhlungen, die man fuͤr den Poͤbel macht? Bloße ſimple Mordgeſchichte. Man haͤuft Un- gluͤcksfaͤlle auf Ungluͤcksfaͤlle: und wenn man den Eindruck noch durch etwas verſtaͤrken will; ſo iſt es durch das Wunderbare der Vorfaͤlle. In un- ſern beſten Tragoͤdien und Romanen hingegen, wenn der Held ungluͤcklich werden ſoll, ſehen wir doch das Gemaͤlde ſeiner Gluͤckſeligkeit einen we- ſentlichen und wichtigen Theil ausmachen. Soll eine Familie zerruͤttet werden: man fuͤhrt uns erſt in dieſelbe ein, da ſie noch einig und gluͤcklich iſt; oder man macht uns doch mit dieſem Zuſtande be- kannt. Sollen einem Vater ſeine Kinder unge- horſam, ſoll einem Liebhaber ſeine Geliebte untren werden: man lehrt uns erſt, was es heiſſe, ein Vater guter Kinder, und der Treue ſeiner Gelieb- ten verſichert zu ſeyn. 4) Alle Leidenſchaften, oder vielmehr dieje- nige Art jeder Leidenſchaft, bey welcher eine Thaͤ-

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Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/373>, abgerufen am 21.11.2024.