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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798.

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jede Entstehung und Veränderung der Bewegung eine Ursache voraussetzt, so behelfen wir uns mit dem Worte: Kraft, um dadurch alle diese Ursachen zu bezeichnen, die wir so oft nennen müssen, obgleich ihre Natur ein unerforschliches Geheimniß bleibt.

Die Bewegung ist das wichtigste, aber auch das unerklärbarste Phänomen der Körperwelt, sie mag nun durch lebende Wesen, oder durch Mittheilung, oder durch Gravitation u. dgl. hervorgebracht werden. Unter den Weltweisen haben sie einige als etwas der Materie wesentlich Eignes angesehen, andere mit dem Aristoteles von einer ersten selbst unbewegten Ursache ([fremdsprachliches Material]) hergeleitet.

Malebranche, der die Gottheit mit Recht zum Urheber der Bewegung macht, findet den unmittelbaren Einfluß dieses höchsten Wesens bey jedem besondern Wurfe, Falle und Stoße nöthig, und macht so die ganze Körperwelt zu einer unaufhörlichen Reihe von Wundern. Die Einführung des Wortes Kraft sollte anfänglich dazu dienen, die Bewegung deutlicher zu erklären; aber man hat in dieser Rücksicht dadurch nichts weiter gewonnen, als einen Namen, der unsere Unwissenheit verstecken hilft, und der wegen des dunkeln Begrifs, den er bezeichnet, ganz bequem ist, um aus ihm noch mehr Wirkungen, als die Bewegung allein, herzuleiten.

Das Wort Kraft drückt im eigentlichen Verstande das aus, was wir in uns fühlen, wenn wir ruhende Körper bewegen, oder bewegte aufhalten wollen. Die Empfindung, die wir alsdann haben, ist jederzeit mit einer Veränderung der Ruhe oder Bewegung des Körpers, auf den wir wirken, begleitet. Wir können uns nicht enthalten, das was in uns ist, für die Ursache dieser Veränderung anzunehmen. Sehen wir nun ähnliche Veränderungen ohne unser Zuthun erfolgen, so sind wir geneigt, eine ähnliche Ursache davon, eine Kraft, außer uns zu vermuthen. Man übersieht leicht, wie undeutlich diese Vorstellung ist. Inzwischen giebt sie einen bequemen Namen für die Ursache


jede Entſtehung und Veraͤnderung der Bewegung eine Urſache vorausſetzt, ſo behelfen wir uns mit dem Worte: Kraft, um dadurch alle dieſe Urſachen zu bezeichnen, die wir ſo oft nennen muͤſſen, obgleich ihre Natur ein unerforſchliches Geheimniß bleibt.

Die Bewegung iſt das wichtigſte, aber auch das unerklaͤrbarſte Phaͤnomen der Koͤrperwelt, ſie mag nun durch lebende Weſen, oder durch Mittheilung, oder durch Gravitation u. dgl. hervorgebracht werden. Unter den Weltweiſen haben ſie einige als etwas der Materie weſentlich Eignes angeſehen, andere mit dem Ariſtoteles von einer erſten ſelbſt unbewegten Urſache ([fremdsprachliches Material]) hergeleitet.

Malebranche, der die Gottheit mit Recht zum Urheber der Bewegung macht, findet den unmittelbaren Einfluß dieſes hoͤchſten Weſens bey jedem beſondern Wurfe, Falle und Stoße noͤthig, und macht ſo die ganze Koͤrperwelt zu einer unaufhoͤrlichen Reihe von Wundern. Die Einfuͤhrung des Wortes Kraft ſollte anfaͤnglich dazu dienen, die Bewegung deutlicher zu erklaͤren; aber man hat in dieſer Ruͤckſicht dadurch nichts weiter gewonnen, als einen Namen, der unſere Unwiſſenheit verſtecken hilft, und der wegen des dunkeln Begrifs, den er bezeichnet, ganz bequem iſt, um aus ihm noch mehr Wirkungen, als die Bewegung allein, herzuleiten.

Das Wort Kraft druͤckt im eigentlichen Verſtande das aus, was wir in uns fuͤhlen, wenn wir ruhende Koͤrper bewegen, oder bewegte aufhalten wollen. Die Empfindung, die wir alsdann haben, iſt jederzeit mit einer Veraͤnderung der Ruhe oder Bewegung des Koͤrpers, auf den wir wirken, begleitet. Wir koͤnnen uns nicht enthalten, das was in uns iſt, fuͤr die Urſache dieſer Veraͤnderung anzunehmen. Sehen wir nun aͤhnliche Veraͤnderungen ohne unſer Zuthun erfolgen, ſo ſind wir geneigt, eine aͤhnliche Urſache davon, eine Kraft, außer uns zu vermuthen. Man uͤberſieht leicht, wie undeutlich dieſe Vorſtellung iſt. Inzwiſchen giebt ſie einen bequemen Namen fuͤr die Urſache

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[797/0803] jede Entſtehung und Veraͤnderung der Bewegung eine Urſache vorausſetzt, ſo behelfen wir uns mit dem Worte: Kraft, um dadurch alle dieſe Urſachen zu bezeichnen, die wir ſo oft nennen muͤſſen, obgleich ihre Natur ein unerforſchliches Geheimniß bleibt. Die Bewegung iſt das wichtigſte, aber auch das unerklaͤrbarſte Phaͤnomen der Koͤrperwelt, ſie mag nun durch lebende Weſen, oder durch Mittheilung, oder durch Gravitation u. dgl. hervorgebracht werden. Unter den Weltweiſen haben ſie einige als etwas der Materie weſentlich Eignes angeſehen, andere mit dem Ariſtoteles von einer erſten ſelbſt unbewegten Urſache (_ ) hergeleitet. Malebranche, der die Gottheit mit Recht zum Urheber der Bewegung macht, findet den unmittelbaren Einfluß dieſes hoͤchſten Weſens bey jedem beſondern Wurfe, Falle und Stoße noͤthig, und macht ſo die ganze Koͤrperwelt zu einer unaufhoͤrlichen Reihe von Wundern. Die Einfuͤhrung des Wortes Kraft ſollte anfaͤnglich dazu dienen, die Bewegung deutlicher zu erklaͤren; aber man hat in dieſer Ruͤckſicht dadurch nichts weiter gewonnen, als einen Namen, der unſere Unwiſſenheit verſtecken hilft, und der wegen des dunkeln Begrifs, den er bezeichnet, ganz bequem iſt, um aus ihm noch mehr Wirkungen, als die Bewegung allein, herzuleiten. Das Wort Kraft druͤckt im eigentlichen Verſtande das aus, was wir in uns fuͤhlen, wenn wir ruhende Koͤrper bewegen, oder bewegte aufhalten wollen. Die Empfindung, die wir alsdann haben, iſt jederzeit mit einer Veraͤnderung der Ruhe oder Bewegung des Koͤrpers, auf den wir wirken, begleitet. Wir koͤnnen uns nicht enthalten, das was in uns iſt, fuͤr die Urſache dieſer Veraͤnderung anzunehmen. Sehen wir nun aͤhnliche Veraͤnderungen ohne unſer Zuthun erfolgen, ſo ſind wir geneigt, eine aͤhnliche Urſache davon, eine Kraft, außer uns zu vermuthen. Man uͤberſieht leicht, wie undeutlich dieſe Vorſtellung iſt. Inzwiſchen giebt ſie einen bequemen Namen fuͤr die Urſache

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798, S. 797. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch02_1798/803>, abgerufen am 22.11.2024.